Aus Erfahrung in die Utopie
Ich finde das Motto „Zurück in die Zukunft“ ideal für das 30-jährige Jubiläum der Brandenburgischen Frauenwoche. Es regt nicht nur dazu an zu erinnern und nach den Erfahrungen der letzten 30 Jahre zu fragen, sondern zeigt auch wie: nämlich mit dem Blick nach vorne.
Mein eigener Rückblick ist vergleichsweise kurz, ich arbeite seit knapp vier Jahren in Brandenburg. Ich habe mich vor allem deshalb für die Arbeit beim Frauenpolitischen Rat beworben, weil ich mich für die Erfahrungen von den Frauen interessiert habe, die die sogenannte Wende miterlebt haben. Ich wusste aus dem Studium, dass das Selbstverständnis von Frauen aus den neuen Bundesländern oft ganz anders war (oder ist?) und dass der Begriff Rabenmutter nur im Westen existiert. Ich hatte erwartet, dass die Frauen, die sich im Frauenpolitischen Rat organisieren, völlig anders sein mussten, als diejenigen, die ich bisher kannte. Und natürlich gibt es Unterschiede! In den letzten Jahren habe ich beeindruckende Brandenburgerinnen getroffen, die ihrer Selbstbeschreibung nach „Ökonom“ oder „Biologe“ sind und heute für soziale oder kulturelle Projekte arbeiten oder Journalistin geworden sind. Es hat bei mir eine ganze Weile gebraucht bis ich verstanden habe, dass der Begriff „Feminismus“ neu ist (aber die Sache nicht!) und dass man in Brandenburg früh aufsteht.
Wenn ich jetzt Unterschiede aufzählen wollen würde, müsste ich allerdings auch aufzeigen, wie diese sich in den letzten Jahren verändert haben und vor allem müsste ich auf die Unterschiede zwischen denjenigen Frauen eingehen, die im FPR organisiert sind. Denn mit den Juristinnen, den christlichen Frauen und Parteifrauen, dem Arbeitslosenverband, den Alleinerziehenden, den Gewerkschaften und Gleichstellungsbeauftragten treffen sich bei uns Frauen, die unterschiedlicher kaum sein könnten.
Unter dem Begriff „Überparteilichkeit“ zusammengefasst, vertreten wir die Interessen von sehr verschiedenen Frauen und ich war von Anfang an schwer beeindruckt davon, wie solidarisch die Frauen untereinander sind.
Unsere Arbeit ist nicht einfach, wir machen den täglichen Spagat zwischen Gewalt gegen Frauen, Bildung ohne Klischees, Frauenarmut und Gremienpolitik.
Marina Grasse hat vor 5 Jahren auf unserem Blog dazu aufgerufen, dass es an der Zeit sei, sich der Frage zu stellen, welche Wirkung die gängigen Instrumentarien der Frauen- und Gleichstellungspolitik erzielen:
„Fragen wir uns selbst, fragen wir unsere Freundinnen, Mitstreiterinnen, Schwestern, Töchter, Mütter, Nachbarinnen und auch unsere „Widersacherinnen“: „Wie soll die Gesellschaft aussehen, in der wir leben wollen und in der uns nachfolgende Frauen- Generationen in Frieden, Gerechtigkeit und in einer Wirtschaftordung leben, die die natürliche Umwelt bewahrt.
Wofür und woran wollen wir als Frauen mit all unserer Verschiedenheit gleichberechtigt beteiligt sein? Wollen wir in einer Gesellschaft leben, in der wir gezwungen sind, immer länger, mehr und „effizienter“ zu arbeiten, damit wir an der Konsumgesellschaft teilhaben können?
Wollen wir in einer Gesellschaft leben, in der wir keine Zeit mehr haben für unsere Familien, unsere Freundschaften, unsere Nachbarschaften, unsere Regeneration?
Wollen wir tatsächlich gleichberechtigt mitmachen, mitwirken an einer patriarchal und neoliberal ausgerichteten Weltordnung, die die Kluft zwischen den wenigen Reichen und den vielen Armen immer weiter vertieft, die Menschen zwingt, ihre Heimat zu verlassen, unsere natürlichen Lebensgrundlagen zerstört und die nicht davor zurückschreckt, ihre nationalen oder auch regionalen Machtinteressen und Einflusssphären (notfalls) auch mit Waffengewalt durchzusetzen?
Wollen wir uns – wie so oft in der Geschichte – benutzen lassen, um mit hohem Krafteinsatz die schmerzhaften Folgen systemischer, geschlechtsspezifischer Gerechtigkeitsdefizite und Machtungleichheiten etwas zu lindern? Glauben wir, egal welcher Generation wir angehören, tatsächlich, dass es keine gesellschaftlichen Alternativen gibt?
Gilt die „alte“ feministische Utopie von friedlichen, herrschaftsfreien, gerechten, solidarischen und ökologisch wirtschaftenden Gesellschaften nicht mehr? Wenn nicht, welche gelten dann?“
Es ist an der Zeit, dass wir uns genau diesen Fragen stellen und dabei auch in Utopien denken. Der FPR ist die Interessenvertretung von tausenden Brandenburgerinnen, deren Interessen genau so unterschiedlich sind wie sie.
Diese Differenzen sollten wir auch nicht wegreden. Wir müssen keine einheitliche Identität ›Frau‹ anstreben, mit einer vermeintlich geteilten gesellschaftlichen Position. Mir gefällt die Idee des Differenzfeminismus, dass sich Frauen in ihrer Unterschiedlichkeit (kritisch) aufeinander beziehen, damit ihre heterogenen Positionen sichtbar werden, aber auch das ihnen Gemeinsame.
Die Frauenwoche schafft Orte, an denen unterschiedliche Frauen einander begegnen und Neues (neue Bündnisse, neue Strategien, neue Ideen) entsteht, an denen Frauen miteinander streiten, sich gemeinsam kritisch mit den gesellschaftlichen Verhältnissen auseinandersetzen und in unterschiedlichen Allianzen dafür kämpfen, dass es, mit unserer komplexen Geschichte und all unseren Differenzen im Rücken, weiter voran geht.
Text: Verena Letsch
Foto: Creative Commons
Dieser Beitrag erscheint in der Reihe „Zurück in die Zukunft“ anlässlich zur 30. Brandenburgischen Frauenwoche 2020. Die letzten 30 Jahre sind geprägt von Wendepunkten in den Biografien aller Brandenburgerinnen. Mit dem Motto wollen wir nicht nur erinnern – mit unseren Erfahrungen richten wir den Fokus in die Zukunft: Wie soll die Gesellschaft aussehen, in der wir leben wollen? Wöchentlich erscheint ein Beitrag, wenn auch Du oder Sie was schreiben wollen, freuen wir uns über Zusendungen!