Wofür haben wir Zeit? Eine höchst politische Frage.
Wir alle brauchen (mehr) Zeit – Zeit für Arbeit, Zeit für soziale Beziehungen, Zeit für Sorgearbeit und Zeit, für die eigenen Inte ressen einzutreten. Doch Zeit ist nicht gerecht verteilt. Fehlende Zeit oder „Zeitarmut“ treibt in die Erschöpfung – v.a. Familien und dabei besonders Mütter und Alleinerziehende – und verhindert politische und gesellschaftliche Teilhabe. Wie können wir also Zeit und damit auch Freiheit und Macht gerechter verteilen?
Antworten auf diese Frage suchten wir beim Fachtag „LÄUFT DIE ZEIT FÜR ALLE GLEICH SCHNELL? – Geschlechterungleichheiten in der Zeitverwendung“ am 18. Juni 2024 in Potsdam. Durch den vom Ministerium für Soziales, Gesundheit, Integration und Verbraucherschutz (MSGIV) in Kooperation mit der Bundesstiftung Gleichstellung veranstalteten Fachtag führte die Moderatorin Katharina Linnepe.
Die Hälfte der Mütter von unter 3-jährigen Kindern in Brandenburg übernehmen die Care-Arbeit und den Haushalt allein.
Gleich zu Beginn des Fachtages zitierte Dr. Antje Töpfer, Staatssekretärin für Frauen und Gleichstellung in Brandenburg, diese Zahl aus der aktuellen Familienbefragung Brandenburg (vgl. S. 38) und betonte dann:
Zeit scheint auf den ersten Blick neutral und naturgegeben. Zeit vergeht nun mal immer gleich schnell. Doch 24 Stunden reduzieren sich besonders schnell, wenn davon Großteile für Lohnarbeit und Sorgearbeit verwendet werden. Die aktuellen Zahlen der Zeitverwendungserhebung zeigen wieder einmal: Gerade Frauen kümmern sich pro Tag über eine Stunde mehr als Männer um Kinder, pflegebedürftige Angehörige und den Haushalt. Sie haben damit weniger Zeit für eine Erwerbstätigkeit, für Erholung und Ehrenamt zur Verfügung. Damit ist die Frage nach Zeit auch eine gleichstellungspolitische Frage!
Sie machte damit deutlich, dass die Komponente Zeit im gleichstellungspolitischen Diskurs eine oftmals vernachlässigte und doch so wichtige ist.
9 Stunden mehr arbeiten Frauen in Deutschland unbezahlt pro Woche.
Theresa Pauli, Referentin für Frauen- und Gleichstellungspolitik, präsentierte aktuelle Zahlen zur Zeitverwendungserhebung, die die bestehenden Gender Gaps beleuchteten und bezog sich dabei u.a. auf die Zeitverwendungserhebung 2022 des Statistischen Bundesamts. Nicht überraschend, dennoch eindrücklich zeigte sich ein deutliches Ost-West, sowie auch ein leichtes Nord-Süd Gefälle in den Kategorien wie Arbeitszeiten von Frauen und Männern oder Erwerbstätigkeit von Familien mit Kindern unter 3 Jahren. Dabei ging sie auch auf die Intensivierung von Elternschaft durch gestiegene Erwartungshaltungen z.B. mit Blick auf eine bedürfnisorientierte Erziehung ein und betonte, dass Alleinerziehende am wenigsten Zeit für Freizeit haben.
Die Gesellschaft funktioniert auf dem Rücken der Frauen.
Dr. Alina Pöge vom Institut für angewandte Familien-, Kindheits- und Jugendforschung e.V. (IFK e.V.) an der Universität Potsdam präsentierte die Ergebnisse der Familienbefragung Brandenburg. Über 19.000 Erziehungsberechtigte wurden in ganz Brandenburg aufgefordert sich zu beteiligen und mit 4.721 Rückmeldungen ist ein umfangreiche Datenerhebung gelungen, die einen Einblick in die Zeitverwendung und Aufgabenverteilung in brandenburgischen Familien ermöglicht. Besonders eindrücklich sprach sie u.a. über die körperlichen und psychischen Beschwerden von Eltern. So fühlten sich fast 54% der Frauen durch Rückenschmerzen beeinträchtigt. Fast 70% der Mütter kämpfen mit Müdigkeit. Viele Mütter berichten zudem von „wenig Interesse und Freude an den üblichen Tätigkeiten“ (44,2%), „Niedergeschlagenheit, Schwermut oder Hoffnungslosigkeit“ (35,9%) und dem „Gefühl, versagt zu haben“ (31,9%) (vgl. Familienbefragung, S. 72-77).
Vom Kümmern, Kummer und der Kleinfamilie
Alicia Schlender, Geschlechterforscherin, setzte sich in ihrem Vortrag mit feministischer Familienkritik und der Rolle der Mutterschaft auseinander. Sie machte deutlich:
„Kümmern ist detailreich. Kümmern ist umfangreich. Kümmern ist ganz oft unsichtbar.“
Dieses Kümmern umfasst nicht nur die Inner-Familiäre Care-Arbeit sondern auch die Arbeit in Kitas, Schulen und Pflegeeinrichtungen – das Unsichtbare sichtbarer zu machen ist ein erster Schritt, um dieser Arbeit auch die Anerkennung zukommen zu lassen, die es verdient. Denn aktuell streiten wir zuhause um die Zeit, die im Wirtschaftssystem nicht vorgehen ist. Dabei betonte sie, dass neben der Geschlechterungerechtigkeit auch Dimensionen von Klassismus und Rassismus nicht aus dem Blick geraten dürfen. Bei der Auslagerung von häuslicher Care-Arbeit können rassistische Betreuungsketten (Care-Chains) entstehen, die zu prekären Arbeitsverhältnissen für Frauen mit Migrationsbiografien führen. Wer sich kümmern kann, sich kümmern darf und sich kümmern soll ist somit eine zentrale gesellschaftspolitische Frage und Stellschraube.
Ein Zeitbudget für gesellschaftlich relevante Tätigkeiten – Die Lösung?
Nach einer wohlverdienten Mittagspause begann der Nachmittag mit einem Input von Dr. Arn Sauer von der Bundesstiftung Gleichstellung über Zeitpolitik und das Optionszeitenmodell. Dieses Modell sieht ein Zeitbudget im Lebensverlauf für verschiedenen gesellschaftlich relevante Tätigkeiten vor – für Care-Zeiten als Kern ca. 6 Jahre, für Weiterbildung 2 Jahre und für Selbstfürsorge durch persönliche Auszeiten 1 Jahr. Diese Zeiteinheiten sind zweckgebunden, nicht übertragbar und können flexibel im Lebenslauf genutzt werden. Mit diesen „atmenden Lebensläufen“ soll u.a. Sorgearbeit monetär bewertet und im Lebensverlauf strukturell mitgedacht werden. Die Sorgearbeit könnte dabei durch Lohnersatzleistungen durch öffentliche Mittel und Steuern finanziert werden, die Weiterbildungszeiten durch einen Unternehmenspool oder die Agentur für Arbeit und die Selbstfürsorgezeiten durch Eigenfinanzierung oder ein situatives Grundeinkommen.
Dr. Arn Sauer betonte, dass kein Zeitmodell per se Gleichstellung herbeiführen könne, solange bestehende Stereotype nicht hinterfragt würden. Mit dem Optionszeitenmodell und einer Flexibilisierung von Zeitpolitik würde aber die Möglichkeit eröffnet werden, unbezahlte Care-Arbeit sichtbar und bezahlt zu machen. Dem Vortrag schloss sich eine rege Diskussion an, bei der sich unter anderem der Frage gewidmet wurde, warum Care-Zeiten bisher als Auszeiten und nicht als eine Form der Qualifizierung und des Kompetenzerwerbs angesehen werden.
Zeit ist nicht gleich Zeit
Den Abschluss des Fachtages bildete eine Podiumsdiskussion zum Thema „Zeit ist nicht gleich Zeit – ein Blick auf vielfältige Herausforderungen in der Zeitverwendung“. Hier kamen unter anderem Petra Quittel, eine Krankenschwester im Schichtdienst und Kommunalpolitikerin (und Teil unserer Kampagne „Von Nüscht kommt Nüscht“); Tanya Raab, eine Studentin, Mutter und jüdische Aktivistin; Lina Schmidt, Schülerin aus Teltow und Mia Diekow, Musikerin und Mitgründerin der Initiative Long COVID Deutschland zu Wort. Im Austausch kristallisierten sich vielfältige Herausforderungen in der Zeitverwendung heraus, dazu gehören:
- soziale Netzwerke zum Beispiel für die Arbeit als auch im Wahlkampf
- Wegezeiten, durch fehlenden oder unzureichenden Nahverkehr
- Pflege von Angehörigen – unvorhersehbar und unplanbar
- Sich selbst erklären zu müssen, sei es für eine Krankheit, Diskriminierungserfahrungen, etc.
- Bürokratie
„Soziale Gerechtigkeit bedeutet gerechte Verteilung der Zeit“
Ein zentrales Thema des Fachtags war die Verbesserung der Lebensqualität von Familien durch Maßnahmen wie verlässliche Kitabetreuung, Mobilitätsgarantien, Pflege vor Ort und Ehrenamtsförderung. Es wurde deutlich, dass die Diskussion um Zeitgerechtigkeit eng mit gesellschaftlichen Strukturen und Normen verwoben ist. Die Norm der Kleinfamilie, kapitalistische Wirtschaftssysteme und ungleiche Bezahlung in Care-Berufen wurden dabei als zentrale Faktoren identifiziert. Es bedarf daher nicht nur rechtlicher und politischer Maßnahmen, sondern auch einen kulturellen Wandel in der Wertschätzung von Care-Arbeit und der Flexibilisierung von Zeitpolitiken.
Der Fachtag bot eine Plattform für den Austausch von Wissen und Erfahrungen und förderte somit den Ausbau von Verständnis. Um es mit den Worten von Teresa Bücker aus ihrem Buch „Alle_Zeit“ zusammenzufassen: „Soziale Gerechtigkeit bedeutet gerechte Verteilung der Zeit.“
Quellen / Weiterlesen
Institut für angewandte Familien-, Kindheits- und Jugendforschung e.V. an der Universität Potsdam (2024): Familienbefragung Brandenburg – Winter 2022/2023 – Ergebnisbericht“. Online verfügbar unter: https://ifk-potsdam.de/wp-content/uploads/IFK-Familienbefragung-Ergebnisbericht_2024.pdf
Ministerium für Soziales, Gesundheit, Integration und Verbraucherschutz des Landes Brandenburg (2024): Pressemitteilung „Fachtagung zu Geschlechterungleichheiten in der Zeitverwendung“. Online verfügbar unter: https://msgiv.brandenburg.de/msgiv/de/presse/pressemitteilungen/detail/~18-06-2024-fachtagung-zu-geschlechterungleichheiten
Theresa Bücker (2022): Alle_Zeit: Eine Frage von Macht und Freiheit. Ullstein.
Statistisches Bundesamt (2024): Zeitverwendungserhebung 2022. Alle Informationen zum Thema Zeitverwendung und der Zeitverwendungserhebung online verfügbar unter: https://www.destatis.de/DE/Themen/Gesellschaft-Umwelt/Einkommen-Konsum-Lebensbedingungen/Zeitverwendung/_inhalt.html#sprg674870