Selbstermächtigung von Frauen und Mädchen mit Behinderungen

 

„Diskriminierung ist (fast) immer mehrdimensional“, erklärt Julia Zismeister in ihrem gleichnamigen Beitrag zu dem Buch „Gendering Disability – Intersektionale Aspekte von Behinderung und Geschlecht“[1]. Merkmale wie (zugeschriebenes) Geschlecht, Herkunft, Beeinträchtigungen oder Sexualität überlagern und verstärken sich. Dies wird zusammengefasst in der Idee der Intersektionalität[2], die besagt, dass Identitäten fließend und vielschichtig sind.

Fachtagung in Brandenburg an der Havel

Mit einer dieser Que(e)rverbindungen der Diskriminierungsformen setzte sich auch die Fachtagung am 13. November in Brandenburg an der Havel auseinander. Hier sollten besonders Frauen und Mädchen mit körperlichen und geistigen Beeinträchtigungen in den Fokus genommen werden. Initiiert wurde die Veranstaltung vom Arbeitskreis „Keine Gewalt gegen Frauen und ihr Kinder“ unter der Leitung der örtlichen Frauenschutzeinrichtung zum internationalen Aktionstag „ Nein zu Gewalt an Frauen“, der jedes Jahr am 25. November stattfindet.

Die Referent*innen erörterten Ursachen der Diskriminierung von Mädchen und Frauen mit körperlichen und geistigen Beeinträchtigungen und nahmen die diesbezüglichen Anforderungen an Hilf- und Unterstützungsangebote in den Blick: Unter anderem benannten sie ein grundsätzliches Machtungleichgewicht in Bezug auf Ressourcen, Position, Organisation, Artikulationsmöglichkeiten und -verhalten sowie ein Ungleichgewicht in Bezug auf Wissen als Grundlagen der Diskriminierung[3].

Ursachen der Diskriminierung

Aufbau von Institutionen

Der Aufbau (baulich als auch organisatorisch) der Institutionen, in denen sich Mädchen und Frauen mit körperlichen und geistigen Beeinträchtigungen bewegen – von Werkstätten bis zum betreuten Wohnen – jede Einrichtung hat ihre Besonderheiten. So kann das Fehlen abschließbarer Sanitäranlagen oder privater Räume eine Problemgrundlage sein.

Unfreiwilliges Zusammenleben

Eine weitere Ursache für Gewaltgeschehen ist, dass das Zusammenleben in den meisten Einrichtungen der Behindertenhilfe (aber auch jeder anderen Institution wie beispielsweise in Übergangswohnheimen für Menschen mit Migrationshintergrund oder Internaten) nicht mit selbstbestimmt ausgesuchten Menschen geschieht. Die so entstehenden Gruppendynamiken werden oft mit gewalttätigem Verhalten (verbal, psychisch, physisch und nicht selten auch sexualisiert) gelöst.

Abhängigkeitsverhältnisse

Menschen mit Behinderung benötigen gegebenenfalls jeden Tag Unterstützung und Hilfe, angefangen bei der Verrichtung alltäglicher Handlungsabläufe (wie Waschen, Anziehen, Wohnung reinigen) über die Versorgung mit lebensnotwenigen Gütern (wie Wohnung, Nahrung, Medikamente) bis hin zu Bildung und Förderung von Wissen und Unterstützung oder Übernahme bei der Regelung behördlicher Angelegenheiten. Dies führt zu Abhängigkeitsverhältnissen, die einen weiteren Nährboden für Gewalt jedweder Art  darstellt. Sich ausdrücken zu können ist eng verbunden mit Wissens- und Informationshierarchien. Können die Betroffenen benennen, was ihnen passiert ist, wenn sie die Worte dafür nicht kennen?

Hierarchien und Pauschalisierungen

Die fundamentalste Grundlage für Gewalt ist jedoch das Machtungleichgewicht in Bezug auf Position. Dies bezieht sich auf die Wahrnehmung und Deutung von Normalitäten. Die Mehrheit einer Gruppe ist die Normgebende, die Einteilung in Gruppen geschieht nicht freiwillig sondern entlang gemeinsam geteilter Merkmale[4]. Dabei geht der Blick auf das Individuelle verloren, Pauschalisierungen treten in den Vordergrund und bestimmen die Wahrnehmung der Menschen von- und den Umgang der Menschen miteinander[5]. Die so entstehenden Identitätskategorien führen zu Machtverhältnissen, bei denen gerade marginalisierte Gruppen auf der Verlierer*innenseite stehen. Kommt es dann noch zu einer Mehrfachdiskriminierung, wie es gerade bei Frauen mit Beeinträchtigung der Fall ist, ist das Ausmaß der Ohnmacht und Ausgrenzung verheerend und in vielen Fällen lebensbedrohlich. Denn Gewalt, und das sollte sich jede*r von uns immer wieder vor Augen führen, ist eine Spirale, die sich von Beleidigungen über Schläge bis zu Mord oder Selbsttötung als Ausweg  zieht.

Einschränkung der Entscheidungsfreiheit

Vertreter*innen von Trägern der sozialen Arbeit machten auf weitere Probleme aufmerksam: Oft sind Frauen in Einrichtungen nicht mehr selbst rechtskräftig, weil eine Vormundschaft vorliegt (bei geistig eingeschränkten oder an Demenz erkrankten Personen). Ihre Entscheidungsfreiheit ist beschränkt. Dies ist der Fall, weil jemand anderes die rechtliche Vertretung ausübt, oft aber auch, weil die Betroffenen auch räumlich eingeschränkt werden. Ob ihnen bei einer Aussage geglaubt wird, ist darüber hinaus fraglich, da sie als Zeuginnen anzweifelbar sind.

Was tun?

Reflektion & Transparenz

Einige Träger sind sich dieser Problemlage bewusst und versuchen durch „kleine Schritte“ eine Verbesserung der Situation zu erreichen. Aber es wurde auch betont, dass es eine 100%ige Sicherheit nie geben kann. Eine Verbesserung kann jedoch durch Reflektion von Zuschreibungen und Machtverhältnissen, durch Transparenz und vor allem durch Bildung erreicht werden.

Bildung

Mitarbeitende müssen geschult werden. Potentiell Betroffene müssen über ihre Rechte informiert sein, sie müssen wissen, wo und wie sie sich Hilfe holen können.

Was wir fordern: Bessere Ausstattung

Nicht nur Einrichtungen, Hilfsangebote, Polizei und Justiz müssen also mehr Aufmerksamkeit auf diese Problematiken legen, aber auch die Mittel dazu an die Hand bekommen. Frauenhäuser beispielsweise sind bereits in der schwierigen Lage, dem Aufkommen gerecht zu werden. Frauen mit besonderen Bedürfnissen können sie in dieser Situation kaum gerecht werden. Mit Vertreterinnen von Interessenvereinigungen muss eng zusammengearbeitet werden, um die Bedürfnisse besser zu verstehen. Eine davon ist zum Beispiel Weibernetz e.V.[6].

Die Betroffenen haben keine starke Lobby, da sie sich nur begrenzt selbst vertreten können. Daher ist es umso wichtiger, dass man denen zuhört, die es tun und ihre Arbeit unterstützt. Die Einrichtung von Gleichstellungsbeauftragten in Behindertenwerkstätten ist zum Beispiel einer dieser „kleinen Schritte“ zur Selbstermächtigung der beeinträchtigten Frauen.[7]

Fakt ist jedoch, dass wir einen breiten gesellschaftlichen Diskurs über Kategorien und die Macht von Zuschreibungen genauso nötig brauchen wie die Enttabuisierung von Gewalt gegen Frauen und gegen Menschen mit Behinderung.

Natürlich kann so ein breites Feld kaum an einem Nachmittag abgehandelt werden, daher wünschten sich alle Teilnehmer*innen der Fachtagung eine weitere Auseinandersetzung und Vernetzung.

 

Text: Claudia Sprengel, Juliane Moosdorf

Fotos: Claudia Sprengel

[1] Zinsmeister, Julia (2010): Diskriminierung ist (fast) immer mehrdimensional. »Rasse«, Geschlecht und Behinderung aus rechtlicher Sicht. In: Jacob, Jutta; Köbsell, Swantje; Wollrad, Eske (Hg.) (2010): Gendering Disability. Bielefeld: transcript Verlag

[2] https://missy-magazine.de/blog/2017/05/29/hae-was-heisst-denn-intersektionalitaet/

[3] Zemp, Aiha (1998): Sexuelle Ausbeutung von Mädchen und Frauen mit geistiger Behinderung. In: Amann, Gabriele (Hg.) (1998): Sexueller Mißbrauch. Überblick zu Forschung, Beratung und Therapie; ein Handbuch. 2. Aufl. Tübingen: Dgvt-Verl.

[4] Vgl. Zinsmeister, Julia (2010): Diskriminierung ist (fast) immer mehrdimensional. »Rasse«, Geschlecht und Behinderung aus rechtlicher Sicht. In: Jacob, Jutta; Köbsell, Swantje; Wollrad, Eske (Hg.) (2010): Gendering Disability. Bielefeld: transcript Verlag

[5] Vgl. Pohlen, Carola (2000): Kategorien, die fiesen Biester. Identitäten, Bedeutungsproduktionen und politische Praxis. In: Jacob, Jutta; Köbsell, Swantje; Wollrad, Eske (Hg.) (2010): Gendering Disability. Bielefeld: transcript Verlag.

[6] https://www.weibernetz.de/

[7] Bundesministerium für Arbeit und Soziales (2017): Bundesteilhabegesetz, Neue Regeln für Werkstätten für behinderte Menschen, https://www.bmas.de/SharedDocs/Downloads/DE/PDF-Publikationen/a769-bundesteilhabegesetz-in-leichter-sprache.pdf?__blob=publicationFile&v=1