Queeres Leben und Gleichstellungspolitiken? – Ein Plädoyer für das Sichtbarmachen von Diversität und Mehrfachdiskriminierungen

Posted by on Nov. 10, 2022 in Allgemein

Beim Fachaustausch „Queeres Leben in Brandenburg und das Verhältnis zu Gleichstellungspolitiken“ kamen am 27.10.22 Vertreterinnen des Brandenburger Ministeriums für Soziales, Gesundheit, Integration und Verbraucherschutz, Vertreterinnen von Frauenorganisationen und kommunale Gleichstellungsbeauftragte zusammen. Wir haben uns ausgetauscht über Begrifflichkeiten und informiert über Lebenslagen von queeren Personen in Brandenburg, über das Verhältnis von Frauenpolitik und queeren Themen und über das Sichtbarmachen von Diversität im Land. 

Bereits in der Vorstellungsrunde machte Verena Letsch, FPR-Referentin, ihre persönliche Meinung zum Verhältnis von Queerer Politik und Frauenpolitik zum Ausdruck und sprach damit vielen Anwesenden aus dem Herzen:

„Ich bin überzeugt davon, dass queere Politik in keiner Weise an der Existenzberechtigung von Frauenpolitik kratzt. Es gibt Vorbehalte, Berührungsängste und viele Fragen. Die Antwort muss sein, diese Fragen zu stellen und zu diskutieren und solidarisch zu sein. Abwehrkämpfe von geschlechtlicher Vielfalt halte ich für gefährlich – für Transmenschen, aber auch für zeitgemäße, aufgeklärte, feministische Frauenpolitik.“
(Verena Letsch, FPR-Referentin)

Mit dem Motto „Bei uns doch nicht!“ der 33. Brandenburgischen Frauenwochen 2023 wollen wir daher den Blick auf strukturelle Machtverhältnisse schärfen und die gesellschaftliche Vielfalt in Brandenburg wertschätzen. Denn „Bei uns doch nicht!“ sagen wir vermutlich alle immer mal wieder – und machen es uns damit einfach. Wenn wir etwas nicht sehen, müssen wir uns nicht damit befassen. Doch das Unsichtbarmachen von Menschen, die von Gewalt, Sexismus und Diskriminierung betroffen sind und das Ausblenden von Verschiedenheit tut uns nicht gut. Was es jetzt braucht, sind zeitgemäße Vorstellungen davon, wie unserer Gesellschaft aussieht. Wir können Missstände überwinden, wenn wir sie aufzeigen, anerkennen und nach Lösungen suchen.

Mit dem Fachaustausch wurde ein wichtiger Schritt gegangen, um eine bessere Vorstellung von queeren Leben in Brandenburg zu gewinnen und in den Austausch zu gehen, wie ein Sichtbarmachen der Diversität und von Mehrfachdiskriminierungen von Frauen- und Gleichstellungsverbänden und -beauftragten unterstützt werden kann.

Begriffe

Im Fachaustausch ging es zunächst um Begrifflichkeiten wie bisexuell, pansexuell, queer, trans*, nicht-binär etc. Dabei wurde vor allem klar: Es ist wichtig, Personen nach ihren Selbstbezeichnungen zu fragen. Begriffe entwickeln sich weiter und unterschiedliche Begriffe werden von verschiedenen Generationen favorisiert. Es sollte keine Angst vorherrschen, den falschen Begriff zu verwenden, sondern wir sollten über Begriffe in den offenen Austausch gehen: Wer verwendet welche Begriffe und was ist jeweils damit gemeint? Welche Begriffe verwenden wir selbst und warum?

Aber auch die individuelle Privatsphäre sollte gewahrt werden, denn wie eine Teilnehmerin so treffend feststellte: „Mir wird jetzt erst klar, warum das Thema so schwierig ist. Wir reden hier von Sex und darüber redet man nicht im ländlichen Raum.“

Letztlich geht es in der Diskussion um Begrifflichkeiten um Anerkennung und Wertschätzung der gesellschaftlichen Vielfalt. Daher erscheint es mir immens wichtig, nicht nur Begriffe für Geschlechter und sexuelle Orientierungen zu finden, die der gesellschaftlichen Mehrheit als „anders“ erscheinen mögen, sondern es zur Norm zu machen, dass alle Geschlechter und sexuellen Orientierungen ihre Begrifflichkeiten haben, z.B. cis-geschlechtlich als Gegenstück zu trans* oder dyadisch als Gegenstück zu inter*.

Neben diversen Begriffen gibt es auch Flaggen, die symbolisch für Geschlechter und sexuelle Orientierungen stehen. Dies kann ein guter Weg sein, um Solidarität und Offenheit zu zeigen, wenn man Flaggen hisst oder Flaggenaufkleber an Türen klebt, die für alle offen sein sollen. Diesen Solidaritätsbekundungen sollten dann jedoch auch Taten folgen.

Lebenslagen

Die Datenlage zu queeren Menschen in Deutschland ist ungenügend. Es wird davon ausgegangen, dass ca. 5-10% nicht cis-geschlechtlich und ca. 5-10% nicht heterosexuell sind. Die Dunkelziffer könnte jedoch deutlich größer sein. Laut der Studie „Queeres Brandenburg“ sind vor allem trans* Personen und lesbische Frauen von Diskriminierungserfahrungen betroffen. Jede zweite Person, die an der Befragung teilgenommen hat, hat in den vergangenen fünf Jahren negative Erfahrungen aufgrund der sexuellen Orientierung bzw. geschlechtlichen Identität machen müssen.

An dieser Stelle wird auch ganz deutlich eine Schnittmenge zu Frauenpolitik deutlich: Ganz häufig haben Personen mit Mehrfachdiskriminierungen zu tun, d.h. sie werden z.B. diskriminiert, weil sie eine Frau sind, aber auch weil sie lesbisch sind oder eine person of color. Die Machtstrukturen, die zu einer Ungleichbehandlung von Frauen führen, unterdrücken auch andere Personen. Um auf diese Schnittmengen und Handlungsfelder noch besser einzugehen, wird derzeit der Aktionsplan „Queeres Brandenburg“ überarbeitet.

Über eine solche Mehrfachdiskriminierung sprach im Fachaustausch auch die Referentin Carolina Brauckmann, die im Vorstand von „Lesben und Alter e.V.“ sitzt und in der Beratungsstelle rubicon in Köln arbeitet. So werden Frauen über 50 von Gesellschaft und Politik bereits weniger stark wahrgenommen und lesbische Frauen über 50 noch weniger. Dem Verein geht es um das Sichtbarmachen der Community, aber auch die Wahrnehmung von politischen Interessen. Carolina Brauckmann hält es für besonders wichtig, mit den Themen in die Fläche zu geben, also auch Kommunen im ländlichen Raum aktiv anzusprechen sowie kulturelle Formate anzubieten, die die Community zusammenbringt. Daraus können sich dann weitere Schritte wie Stammtische o.ä. ergeben. Weiterhin betont sie, dass es wichtig ist zu berücksichtigen, dass viele Strukturen historisch gewachsen sind und zu strukturellen Benachteiligungen gerade im Alter beitragen. Die Errungenschaften zu mehr Gleichberechtigung sind daher für viele historisch auch mit bestimmten Begrifflichkeiten z.B. lesbisch verbunden.

Austausch

Von zentraler Bedeutung ist es, die Menschen dort abzuholen, wo sie sind. Die gesellschaftlichen Realitäten anerkennen und Menschen zusammenführen, um gegenseitiges Verständnis zu verbessern. Gerade auch die Repräsentanz von queeren Menschen im ländlichen Raum gilt es sichtbarer zu machen. Für viele queere Menschen in Brandenburg stellt sich früher oder später die Frage „Gehen oder Bleiben?“, passend zum Motto der diesjährigen 32. Brandenburgischen Frauenwochen. Kinder und Jugendliche „müssen“ i.d.R. zunächst bleiben. Da sollte man ansetzen, um der Landflucht entgegenzuwirken. Es braucht Strukturen, die den Menschen helfen, die sagen „Ich möchte hier bleiben und etwas bewegen“.

Die Schlagworte mit denen der FPR aus der Diskussion geht, sind daher folgende:

Sensibilisieren, Aktivieren, Mobilisieren, Vernetzen, Empowern, Strukturen verändern und schaffen.

Queeres Leben in Brandenburg und das Verhältnis zu Gleichstellungspolitiken in wenigen Worten? Erweitern und Bewahren. Sorgfalt darin zu haben.

 Unser Fazit

Wir bleiben dran! Weitere Austauschrunden werden folgen und die Brandenburgischen Frauenwochen 2023 unter dem Motto „Bei uns doch nicht!“ trage das Thema in die Breite und schärfen den Blick auf die gesellschaftliche Vielfalt in Brandenburg.

 

Weiterlesen

Broschüre der Brandenburgischen Landeszentrale für politische Bildung: Geschlechtliche und sexuelle Vielfalt in Brandenburg (wird demnächst überarbeitet)

Begriffsglossar des Regenbogenportals

„Queeres Brandenburg – Handlungsfelder, Beratungsangebote, Aktion Regenbogen, Bildungsexpress“

„LSBTIQ oder was?! Eine kleine Einführung in die Queere Welt“

Handreichung des Landesfrauenrat Mecklenburg-Vorpommern zum Umgang mit dem 3. Geschlecht

ZDF Format 13 Fragen: Mann, Frau, divers – Sollten wir unser Geschlecht selbstbestimmt wählen können?

 

Text: Jana Dornfeld