Minna Cauer/Lily Braun: Das Programm der radikalen Frauenbewegung (1895)
Am ersten Januar 1895 – also vor nahezu 130 Jahren – erschien die erste Ausgabe der Zeitschrift „Die Frauenbewegung – Revue für die Interessen der Frauen“. Die beiden Herausgeberinnen gehörten dem linksliberalen Spektrum Fortschrittlicher Kreise an, die, den konservativen Strömungen im deutschen Kaiserreich Reformen entgegensetzen wollten. Aus diesem Kontext heraus erklärt sich, warum die Programmatik der neuen Zeitschrift bei aller Radikalität zu diesem Zeitpunkt (noch) ein Bündnis mit fortschrittlichen Männern umfasst.
Minna Cauer/Lily Braun
Das Programm der radikalen Frauenbewegung (1895)
Die Deutsche Frauenbewegung hat in den letzten Jahren erfreuliche Fortschritte gemacht. Selbst die Gegner der Forderungen des weiblichen Geschlechts fangen an, die Frauenfrage ernst zu nehmen. Trotzdem sind unsere englischen, amerikanischen und französischen Schwestern uns nicht nur in dem, was sie erreicht haben, sondern auch in der Einmütigkeit ihres Vorgehens voraus. Der Grund liegt zum nicht geringen Teil darin, dass sie publizistische Organe besitzen, welche der Frauenbewegung in allen ihren Gebieten gerecht werden. Sie bilden den Mittelpunkt ihrer Bestrebungen; sie vermitteln die Bekanntschaft der einzelnen Vereine unter sich; sie klären die Fernstehenden auf; sie bilden das wirksamste Agitationsmittel nach außen.
Der Deutschen Frauenbewegung fehlt solch eine Zeitschrift. Wir haben Mode- und Hausfrauen-Zeitungen; wir haben kleine Vereinsorgane aller Art; wir haben Zeitschriften, welche entweder die Bestrebungen der bürgerlichen oder die der proletarischen Frau ausschließlich vertreten. Die Frauenbewegung wird aber niemals ihr Ziel – die Gleichberechtigung der Geschlechter – erreichen, wenn die Frauen sich nicht – bei allem Festhalten an ihren Sonderinteressen – untereinander verbunden fühlen.
Wir gründen daher eine Zeitschrift, welche eine Vereinigung aller Einzelbestrebungen für das Wohl des weiblichen Geschlechtes bilden soll. Wir wollen dem Kampf der Frau um gleiche Bildung ebenso gerecht werden, wie ihrem Kampf um gleichen Lohn. Die geistige und die materielle Not, in der sich die Frau befindet, soll in diesen Blättern geschildert werden. Auf der andern Seite aber sollen die Erfolge, welche die Frauen in allen zivilisierten Ländern erringen, die weitgehendste Würdigung finden; denn jeder Sieg stärkt den Mut und die Hoffnung derer, die noch inmitten des Kampfes stehen, und ist der stärkste Beweis für die Erreichbarkeit ihrer Ziele. Während wir uns der möglichsten Unparteilichkeit befleißigen wollen, öffnen wir allen in der Frauenbewegung zur Geltung kommenden Richtungen unsere Spalten, denn wir meinen, dass die Kenntnis dieser verschiedenen Richtungen allein zu ihrer gerechten Würdigung führt und dass eine gegenseitige Aussprache die Einigkeit zu fördern am besten geeignet ist.
Wir sind uns bewusst, eine ernste Verantwortung mit der Gründung dieser Zeitschrift auf uns genommen zu haben. Es wird aber nicht nur an uns liegen, ob sie ein vorwärtstreibender, das Gemeinsamkeitsgefühl stärkender Faktor in der deutschen Frauenbewegung wird. Wir bedürfen dazu der Mithilfe aller Frauen. Doch wir wenden uns nicht nur an sie, wir wenden uns auch den Männern zu, einerlei, welchen Volkskreisen und welchen Parteien sie angehören. Denn die Sache der Frauen ist ebenso wenig Sache einer Partei, wie sie allein Aufgabe der Frauen ist. Sie steht in innigstem Zusammenhang mit all den großen Fragen, deren Lösung nur durch die gemeinsame Arbeit beider Geschlechter gefunden werden können. Alle diejenigen, die sich zu solcher Arbeit berufen fühlen, wünschen wir uns als Leser und Mitarbeiter.
Möge unser Appell, den wir im Dienst der guten Sache an die deutschen Frauen und Männer richten, nicht ungehört erklingen!