„Menschenrechte haben kein Geschlecht“ (Hedwig Dohm, 1876)

Posted by on Dez. 10, 2023 in Allgemein

Man erinnere sich: Frauen hatten in dem seit 1871 autokratisch geführten Staat in Deutschland keinerlei Bürgerrechte, d. h. kein Recht auf Bildung, auf Verfügung über ihr Eigentum, auf Mitbestimmung über das Schicksal ihrer Kinder, auf Zugang zu öffentlichen Ämtern – und natürlich kein Wahlrecht.

Es war vor allem Hedwig Dohm, die gegen diese Verweigerung der Menschenrechte für Frauen zu Felde gezogen ist. Der Umstand, dass sie die Ikone der neuen Frauenbewegung in Deutschland geworden ist, lässt sich vor allem darauf zurückführen, dass sie nicht nur klug und unerschrocken war, sondern dass ihr Denken von einer Radikalität und ihre Schriften von einer Ironie, Klarheit und Schärfe waren, die bis heute fast konkurrenzlos sind. Wer ihre Texte liest, wird sie lieben oder verfluchen, unbeteiligt haben sie noch keinen gelassen.

Die Eindeutigkeit, mit der sie sich in der Debatte um Gleichheit und Differenz auf die Seite der Gleichheit geschlagen, und die Leidenschaft, mit der sie sich für das Stimmrecht der Frauen zu einer Zeit eingesetzt hat, in der dem Thema in Deutschland nicht die geringste öffentliche Aufmerksamkeit zuteilwurde, spricht dafür, ihr einen besonders prominenten Platz in der Reihe politischer Denkerinnen und Denker zuzuweisen.

Die Tatsache, dass eine ganze Reihe ihrer berühmtesten Zitate inzwischen zu Gemeinplätzen in der Debatte um die Gleichberechtigung von Mann und Frau geworden ist, lässt leicht in Vergessenheit geraten, dass sie erst als 40jährige Frau mit geringer Schulbildung, Mutter von vier Töchtern, zuhause im ‚stillen Kämmerlein‘ ihre Schriften zu verfassen begonnen hat. Das sind eher ungewöhnliche Voraussetzungen der im Endeffekt furiosen Karriere als Feministin, die wegweisendfür die nachfolgenden Generationen geworden ist, als Saloniere, bei der die kulturelle hautevolee aus- und einging und als Schriftstellerin, die so anerkannt war, dass sie von ihren Schriften leben konnte.

Bereits in den 1870er Jahren erschienen die ersten Publikationen von Hedwig Dohm, in denen sie die völlige rechtliche, soziale und ökonomische Gleichberechtigung von Frauen und Männern forderte. Mit ihren Essays erreichte sie eine breite Öffentlichkeit, erfuhr aber auch herbe Kritik, nicht zuletzt von Seiten der bürgerlichen Frauenbewegung, die angesichts der Radikalität von Dohms Forderungen lieber auf Distanz gingen.

Für Dohm war vor allem das Stimmrecht ein Menschenrecht: „Warum soll ich erst beweisen, dass ich ein Recht dazu habe? Ich bin ein Mensch, ich denke, ich fühle, ich bin Bürgerin des Staats, ich gehöre nicht zur Kaste der Verbrecher, ich lebe nicht von Almosen, das sind die Beweise, die ich für meinen Anspruch beizubringen habe. Der Mann bedarf, um das Stimmrecht zu üben, eines bestimmten Wohnsitzes, eines bestimmten Alters, eines Besitzes, warum braucht die Frau noch mehr?“ (Der Frauen Natur und Recht, S. 161)

Ihr leidenschaftlicher Protest gegen alle Formen patriarchaler Herrschaft gipfelt in ihrer Anklage gegen die staatlich verordnete Tyrannei, welcher die Frauen damals unterworfen waren: „Ich erkenne Nichts an, was nicht Andere auch in mir anerkennen. Es gibt keine Freiheit der Männer, wenn es nicht eine Freiheit der Frauen gibt. Wenn eine Frau ihren Willen nicht zur Geltung bringen darf, warum soll es der Mann dürfen. Hat jede Frau gesetzmäßig einen Tyrannen, so lässt mich die Tyrannei kalt, die Männer von ihresgleichen erfahren.“ (ebd. S. 172)

Zum Abschluss ihrer Abhandlung geht es Dohm vor allem darum, die Durchsetzung des Frauenstimmrechts nicht nur zu einer Angelegenheit von und für Frauen zu machen, sondern die Bedeutung der Bürgerrechte für alle als wesentlichen Bestandteil der Demokratie hervorzuheben: „Entweder ist das Volk souverain und mithin auch die Frauen, oder Unterthanen eines Herrn und Königs sind wir alle. Wir können nur zurück zur Despotie, oder vorwärts zum rein demokratischen Staat, wo der Grundsatz zur Geltung kommen muss, dass die Frauen als Bestandteile des Volks unantastbaren Anspruch haben auf völlige Gleichheit der bürgerlichen und socialen Rechte.“ (ebd. S. 171)

Dohm hatte engen Kontakt zu den in Berlin ansässigen Protagonistinnen des radikalen Flügels, hielt sich aber auch in den von ihr mitgegründeten Frauenstimmrechtsvereinen im Hintergrund. Stattdessen schrieb sie bis zu ihrem Tod 1919 noch mehrere Essays und verfasste über 100 Artikel in Zeitungen und Zeitschriften, in denen sie sich zu aktuellen Fragen äußerte. Die Einführung des Frauenstimmrechts im November 1918 konnte sie noch miterleben. Als man ihr die Nachricht brachte, sagte sie nur: „Zu spät!“. Sie starb mit 87 Jahren am 1. Juni 1919.

Sabine Hering

Literatur

Heike Brandt: Die Menschenrechte haben kein Geschlecht – Die Lebensgeschichte der Hedwig Dohm. Weinheim und Basel 1995.

Sabine Hering: Hedwig Dohm: Der Frauen Natur und Recht, in: Geschichte des politischen Denkens m 19. Jahrhundert. Suhrkamp 2021, S. 612-625.

Nikola Müller: Hedwig Dohm (1831-1919). Eine kommentierte Bibliographie. Berlin 2000,

Isabel Rohner: Spuren ins Jetzt. Hedwig Dohm – eine Biografie. Sulzbach 2010,

Kerstin Wolf: Hedwig Dohm – Scharfzüngige und pointierte Schriftstellerin. In: Damenwahl – 100 Jahre Frauenwahlrecht Hrsg. von Dorothee Linnemann. Frankfurt am Main, 2018, S. 50/51.

Quelle

Hedwig Dohm: Der Frauen Natur und Recht. Zur Frauenfrage. Zwei Abhandlungen über Eigenschaften und Stimmrecht der Frauen, Berlin 1876.