Mehr Zeit für Sorgearbeit – von Allen für Alle

In meinem Umfeld gibt es viele Beispiele dafür, welchen zunehmenden Schwierigkeiten Menschen begegnen, die für andere sorgen. Z.B. die sechzig Jahre alte Tochter, die neben der Vollzeiterwerbstätigkeit ihre demente Mutter und den auf Hilfe angewiesenen Vater versorgt. Die zwei-fache Mutter Anfang dreißig, die nach mehreren Schlaganfällen auf einmal nicht mehr Sorgende, sondern umsorgte Person ist. Die Mittfünfzigerin, die die Pflege ihres Vaters übernehmen sollte, der mit Katheter und akuter Kreislaufschwäche vor kurzem „blutig“ aus dem Krankenhaus entlassen werden sollte. Die End-Zwanzigerin, die keinen KiTa-Platz für ihr Kind bekommen hat und nun nicht erwerbsarbeiten gehen kann. Bitte erzählt eure Geschichte! Ich mache heute einen Anfang. Meine Erfahrungen drehen sich in den letzten Jahren häufiger um Erlebnisse rund um Kinderbetreuung. Sie sind nicht immer so dramatisch, aber in gewisser Weise sind sie dabei von den Geschichten in meinem Umfeld gar nicht so verschieden.

„Sie müssen jetzt gehen.“ – „Mein Kind würde gern noch kurz…“ – „Das geht nicht. Wegen der Versicherung. Sie müssen die KiTa zügig nach der Abholung verlassen. Wir haften nicht für sie, wenn sie oder das Kind einen Unfall haben.“

Wenn ich gegen 16:00 Uhr in diesen Kindergarten komme, ist häufig eine Erzieherin mit bis zu zehn Kindern zwischen eins und sechs allein. Auf die Toilette gehen? Geht eigentlich nicht. Die Kinder beim Toilettengang unterstützen? Dem Po meines Kindes nach zu urteilen, wird ab der Nachmittagsschicht keine Windel mehr gewechselt, kein Po mehr abgewischt. Als einmal ein kleines Kind im Buddelkasten unaufhörlich weint, setze ich mich einfach daneben und rede mit ihm – eine Viertelstunde, bis es abgeholt wird. An diesem Tag ist die Erzieherin zu beschäftigt, um mich rauszuwerfen.

„Warum ist deine Jacke nicht zu? Wo ist denn dein Pullover, dein Schal und deine Mütze? Wo sind die Handschuhe?“ Warum lassen sie mein Kind so auf den Spielplatz, bei Schnee und Eiseskälte?“ – „Ihr Kind geht nun in die Schule, da muss es allein auf seine Sachen achten. Wir machen das nicht.“

In diesem Hort ist Erziehungspersonal ebenfalls „Mangelware“ und die Sache mit dem Anziehen passiert mir nicht nur einmal: Den Erstklässler in den Hort zurückschicken, damit er sich anzieht? Dann müsste ja jemand mitgehen. Eine Kollegin war längere Zeit wiederholt krank. Um sie irgendwie zu ersetzen, machte ein Kollege hunderte Überstunden. Anstatt das Personal aufzustocken, ließ der Träger den Kollegen die Überstunden wieder abbummeln, was dauerhaft dazu führte, dass die Belegschaft nur minimal besetzt war. Verwiesen wurde auf die gesetzlich festgelegten Betreuungsschlüssel, die rein rechnerisch nicht unterschritten wurden. Rein rechnerisch.

„Herr Müller*, mein Kind ist seit heute krank. Meine Frau bleibt heute und morgen zu Hause, am Donnerstag und Freitag werde ich die Betreuung übernehmen.“ – „Wieso? Kann ihre Frau das nicht machen?“

Unsere Versuche, Krankheitstage möglichst paritätisch aufzuteilen und so gemeinsam Verantwortung für unsere Kinder zu tragen, werden immer wieder mit Unverständnis und Kritik quittiert. Die gängige Auffassung lautet: Ist das Kind krank, bleibt die Mutter zu Hause. Klar, oder?

Wenn man genau hinhört, geht es häufig vor allem um Zeit. Es wird immer schwieriger, genügend Zeit für Sorgetätigkeiten, wie zum Beispiel Pflege, Hausarbeit, Zuhören und Anteilnehmen aufzuwenden, nicht für uns selbst, und nicht für andere. Dies betrifft Menschen, die professionell Sorgearbeit leisten und dabei viel zu viele Menschen gleichzeitig versorgen müssen. Oder Tabellen abarbeiten sollen, in denen minutiös aufgelistet ist, wie viel Zeit sie für welche Aufgaben aufwenden dürfen. Und es betrifft Menschen die privat und unbezahlt Sorgearbeit leisten –kräftezehrend neben der Erwerbsarbeit, oder in entwürdigender Armut und wirtschaftlicher Abhängigkeit.

Frauen leisten – heute, wie gestern – den Löwenanteil der unbezahlten Sorgearbeit zu Hause: Sie pflegen Angehörige, putzen, kochen, waschen Wäsche und bügeln – und sie bleiben zu Hause, wenn die Kinder, die Eltern, oder andere Verwandte häusliche Betreuung benötigen. Viele – insbesondere junge Eltern haben zunehmend den Wunsch, die anfallenden Arbeiten anders zu verteilen. Nicht nur, weil es gerechter zugehen soll, sondern auch weil viele anstrengende Arbeiten sich gemeinsam mit (vielen) anderen sehr viel besser schaffen lassen. Und weil es auch eine schöne Arbeit ist, für die man oft viel zurück bekommt, von denen die umsorgt werden. Denn die Zeit, die wir miteinander verbringen, ist unbezahlbar. Aber alte Denkmuster, wie die von Herrn Müller und festgefahrene Strukturen, wie z.B. fehlende KiTa-Plätze und Steuermodelle, die Ungleichheit fördern, verhindern, dass aus den Wünschen Realität wird.

Berufe, die dem Bereich der Sorgearbeit zugeordnet werden können, also z.B. Pflegeberufe, Erziehungsberufe, Reinigungsberufe, aber auch viele Lehrberufe gehören zu den Berufen mit dem wenigsten Prestige – die Arbeitsbedingungen sind schlecht und die Sorgearbeitenden werden schlecht bezahlt. Auch hier sind ein Großteil Frauen. Den Rationalisierungsbestrebungen der Arbeitgeber, die z.B. zu immer größerer Zeitnot bei der Versorgung führen, haben sie oft wenig entgegenzusetzen, denn ein Streik geht letztlich immer zu Lasten derjenigen, die umsorgt werden.

Bei einem KiTa-Streik vor zwei Jahren hat „unsere“ damalige Einrichtung sich erlaubt, einen Tag lang zuzumachen. Dafür wurden sie von nicht wenigen Eltern kritisiert. Ich hätte mir gewünscht, sie hätten mehrere Tage zugemacht, vielleicht sogar wochenlang. Erst dann kann den Entscheidungsträgern wirklich bewusst werden, wer eigentlich dafür sorgt, dass die Wirtschaft brummt. Das heißt, sofern Mütter auch streikten und Väter zu Hause bei den Kindern blieben. Das wäre mal ein Spaß!

*Name von der Autorin geändert.

 

In der Blogreihe „Wir kümmern uns!“ schreiben Brandenburger*innen zu den Themen, die sie bewegen und formulieren dabei auch Handlungsbedarfe und Wünsche an die Politik. Was sind aktuell wichtige Themen in Bezug auf Sorgearbeiten in Brandenburg? Wofür sollten wir uns gemeinsam einsetzen, und gegenseitig unterstützen? Schreiben Sie/ schreibt uns Ihre und eure Sicht der Dinge!

 

Text: Sabine Carl

Foto: Campact „Patente_07-06-17_40”. Veröffentlicht als CC-BY-NC 2.0.  Es handelt sich um einen Bildausschnitt. Abrufbar unter: https://www.flickr.com/photos/campact/34991363422/. (08.09.2017)