Dr. Jessica Bock: Frauenpolitik und feministische Bewegungen – Herausforderungen, Aufgaben und Ziele frauenpolitischer Verbandsarbeit
Wodurch zeichnet sich Ostfeminismus aus? Wie ist das Verhältnis zwischen ost- und westdeutscher Frauenbewegung aus intersektionaler Perspektive zu beschreiben? Welche Parallelen gibt es zwischen der Transformationserfahrung in den 1990er Jahren und den gegenwärtigen Krisen mit ihren weitreichenden Folgen für Frauen? Und welche Anknüpfungspunkte ergeben sich für die frauenpolitische Verbandsarbeit? Antworten auf diese Fragen und Diskussionsanregungen zu den Herausforderungen, Aufgaben und Zielen frauenpolitischer Verbandsarbeit gab Dr. Jessica Bock vom Digitalen Deutschen Frauenarchiv bei ihrer Keynote-Rede anlässlich des 30-jährigen Jubiläums des Frauenpolitischen Rates Land Brandenburg e.V. am 03.09.2022.
Wir vom FPR danken Dr. Jessica Bock für Ihren interessanten Vortrag und die Erlaubnis das Vortragsmanuskript zum Nachlesen für alle Interessierten zu veröffentlichen!
Zur Referentin
Dr. Jessica Bock, studierte Mittlere und Neuere Geschichte an der Universität Leipzig. Mit einem Stipendium der Bundesstiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur promovierte sie über „Frauenbewegung in Ostdeutschland. Aufbruch-Revolte-Transformation in Leipzig 1980-2000“. Ihre Dissertation wurde 2019 wurde mit dem Dissertationspreis der GenderConceptGroup der TU Dresden ausgezeichnet und erschien 2020 im Mitteldeutschen Verlag. Seit 2016 ist sie wissenschaftliche Mitarbeiterin beim Digitalen Deutschen Frauenarchiv. Derzeit erarbeitet sie im Auftrag des Vereins Weiterdenken – Heinrich-Böll-Stiftung Sachsen eine Broschüre über Schwangerschaftsabbruch in Sachsen von 1945 bis 1989/90.
Keynote: Frauenpolitik und feministische Bewegungen – Herausforderungen, Aufgaben und Ziele frauenpolitischer Verbandsarbeit
Sehr geehrte Anwesende,
es ist mir eine große Freude, heute den Impulsvortrag auf Ihrer Jubiläumsfeier zu 30 Jahren Frauenpolitischer Rat Land Brandenburg halten zu dürfen. Angesichts der zahlreichen brennenden Themen war es für mich gar nicht so einfach, die inhaltlichen Schwerpunkte meines Vortrags festzulegen. Nach langem Überlegen und den produktiven Gesprächen mit Verena Letsch habe ich mich für folgende Schwerpunkte entschieden, die zum einen eine Brücke von der Vergangenheit in die Gegenwart schlagen und zugleich dem Anlass gebührend die vergangenen 30 Jahre frauenbewegten Engagements in Brandenburg entsprechend feiern sollen.
Zentrale Folie meiner Überlegungen bildet das Phänomen des sogenannten Ostfeminismus. Ich bin überzeugt, dass sich durch die spezifischen Besonderheiten und die historische Situiertheit der Frauenbewegung in der DDR nicht nur eine eigene Bewegung, sondern auch ein Feminismus herausgebildet hat, der sich vom Feminismus westlicher Prägung unterscheidet.
Einen zweiten Schwerpunkt lege ich in der Folge auf die „offene Aufarbeitung“ – nämlich das Verhältnis zwischen ost- und westdeutscher Frauenbewegung aus intersektionaler Perspektive. Dies ist dringend notwendig. Meine These hierzu lautet: Auch nach mehr als 30 Jahren Maueröffnung und Deutsche Einheit besteht innerhalb der Frauenbewegung eine Disparität, ein Ungleichheitsverhältnis zugunsten des Westens.
Schließlich werde ich über die gegenwärtigen Krisen und deren weitreichende Folgen für Frauen sprechen und zugleich darüber nachdenken, welche Parallelen es zur Transformationserfahrung in den 1990er Jahren gibt.
Alle drei Themen – Ostfeminismus, unabgeschlossene Aufarbeitung, strukturelle Folgen der Krisen für Frauen – können nicht losgelöst voneinander betrachtet werden – und bieten wichtige Anknüpfungspunkte für die frauenpolitische Verbandsarbeit. Daher werde ich auch – bei aller gebotenen Kürze– die Zusammenhänge aufzeigen.
Ostfeminismus – das wiederentdeckte Erbe
Wie verhält es sich mit einem Ostfeminismus? Diese Frage beschäftigt mich, seit ich angefangen habe, über die Geschichte der ostdeutschen Frauenbewegung zu forschen. Meine Analyse der Quellen und Gespräche mit den Zeitzeuginnen ergab, dass bereits die informellen Frauen- und Lesbengruppen der nichtstaatlichen Frauenbewegung in der DDR den Anspruch hatten, etwas Eigenes zu sein und etwas Eigenes zu machen. Zwar rezipierten sie, soweit dies möglich war, die Ereignisse und Debatten der westdeutschen Frauenbewegung – jedoch aber immer mit dem Blick auf die eigene spezifische Situation und des eigenen historischen Geworden-Seins. Dieser Anspruch, etwas Eigenes zu machen und eine eigene Bewegung zu sein, setzte sich zu Beginn der 1990er Jahre fort. Aber was ist aus diesem Anspruch geworden? Wo ist das „Eigene“ hin? Und was war und ist das „Eigene“ eigentlich? Meiner Ansicht nach zeichnet sich der Ostfeminismus durch folgende drei Merkmale aus:
Erstens: Ein zentrales Element ist die Verknüpfung von Gleichberechtigung mit Demokratie. So warnte beispielsweise die Fraueninitiative Leipzig in ihrem Programmentwurf vom 18. Oktober 1989 davor, die Frauenfrage aus der öffentlichen Diskussion ins Private zu verbannen. Dies führe aus ihrer Sicht nicht nur zu einer „Vereinseitigung der Entscheidung“, sondern verhindere darüber auch die Demokratie.[1] Um dies zu verhindern, plädierten die Leipzigerinnen für eine paritätische Quotierung „bei Ämtern mit öffentlicher Entscheidungsbefugnis“.[2] Die erfolgreiche Durchsetzung einer paritätischen Machtaufteilung hing nach Meinung der Leipziger Fraueninitiative nicht zuletzt von den Frauen selbst ab. Sie mussten sich ebenfalls ändern, ihre Scheu oder Vorbehalte gegenüber Machtpositionen ablegen und einen eigenen Machtwillen entwickeln.[3] Demnach verstanden sie die Teilhabe von Frauen nicht nur als ein Recht, sondern auch als eine Pflicht. Für mich ist es daher kein Zufall, dass die Initiative für ein Paritätsgesetz aus Brandenburg, einem ostdeutschen Bundesland, kam.
Die zweite „Eigenheit“ des Ostfeminismus ist seine gesamtgesellschaftliche Perspektive. Wie bereits die Soziologin Irene Dölling und die Gesellschaftswissenschaftlerin Ina Merkel 2011 richtigerweise analysierten, hatte der Ostfeminismus 1989/90 für partikulare Frauenpolitik wenig übrig.[4] Zwar gab es die Forderung nach einem „Staatssekretariat zur Gleichstellung der Geschlechter“, damit die Frauenfrage nicht (wieder) unter Familie/Gesundheit/Soziales subsumiert und daher auch entpolitisiert wurde. Jedoch erkannten sie, dass dieser Gleichstellungsansatz für die Schaffung einer geschlechtergerechten Gesellschaft nicht ausreicht. Folglich verbanden sie die „großen“ gesellschaftlichen Probleme mit frauenpolitischen Themen.[5] Dieser Ansatz zieht sich wie ein roter Faden von der ersten Reformskizze von der Erfurter Gruppe „Frauen für Veränderung“ vom 12. Oktober 1989 bis hin zu den Wahlprogrammen wie der Fraueninitiative Leipzig vom Mai 1990. In diesen Dokumenten finden sich Forderungen zu Themenbereichen wie Rechte und Rechtsform, Bildung und Erziehung, Ökologie, Wirtschaft, Gesundheit und Soziales sowie Kunst und Kultur.
Die dritte „Eigenheit“, die historische Besonderheit, die den ostdeutschen Feminismus auszeichnet, ist der mit der Deutschen Einheit einsetzende Transformationsprozess, der Ostdeutschland innerhalb kürzester Zeit radikal wandelte. Dieser Prozess, der gegenwärtig wieder Gegenstand wissenschaftlicher Untersuchungen ist, hat das Verständnis von Feminismus und Politik der ostdeutschen Frauenbewegung geprägt. Innerhalb der historischen Frauenbewegungsforschung galten die 1990er Jahre der ostdeutschen Frauenbewegung lange als eine Geschichte des Scheiterns. Anstelle paritätischer Machtausübung und Erneuerung der Verhältnisse in Ost und West erfuhren die Frauen in Ostdeutschland Sozialabbau, Massenarbeitslosigkeit und die Wiedereinführung des § 218. Ich sehe dieses Narrativ kritisch, weil es die ostdeutsche Frauenbewegung als Akteurin des Wandels und bezogen auf das, was sie in den vergangenen 30 Jahren geleistet hat, unsichtbar macht.[6]
Unter den schwierigen Bedingungen des Strukturwandels, in dem Frauen und ihre Lebensrealitäten unter dem Punkt „Sonstiges“ rangierten, verfolgten die Fraueninitiativen ihre im Herbst 1989 formulierten Ziele beharrlich weiter. Innerhalb kürzester Zeit etablierten sie auf kommunaler und Landesebene eine feministische Infrastruktur, die – wenn auch vielleicht nicht mehr in dem Umfang – bis heute fortbesteht. Heute gibt es in Brandenburg beispielsweise 16 Frauenzentren, 17 Frauenhäuser, einen etwa 1.100 mitfrauenstarken Verband der Landfrauen oder den Frauenpolitischen Rat Brandenburg, der als Dachverband derzeit 25 Frauenverbände, -organisationen, -vereine sowie Frauengruppen der Gewerkschaften, Kirchen und Parteien im Land Brandenburg vertritt und heute sein 30-jähriges Bestehen feiert.
Diese Strukturen aufgebaut zu haben, ist ein großer Erfolg und zeigt den bestehenden Bedarf an feministischen, frauenpolitischen Netzwerken, Vertretungen und konkreten Unterstützungsangeboten.
Aus ostfeministischer Perspektive möchte ich erwähnen: Den Aufbau feministischer Projekte, die Berufung von Gleichstellungsbeauftragten oder die Gründung von Dachverbänden wie dem Landesfrauenrat – all das war nie das Ende der ostdeutschen Bewegung, sondern auch ein wichtiger Teil der Umsetzung ihrer selbst benannten Ziele. Diese feministische Aufbauleistung ist bis heute weder ausreichend gewürdigt noch eingehend untersucht worden.
„Offene Aufarbeitung“ – das Ost-West-Verhältnis aus intersektionaler Perspektive
Aber warum sind die Sichtbarkeit und die Anerkennung bislang ausgeblieben? Hier möchte ich mich auf zwei der möglichen Ursachen beschränken.
Die erste Ursache ist die Disparität zwischen ost- und westdeutscher Frauenbewegung. Seit Ende der 1990er Jahre kam die Ost-West-Auseinandersetzung quasi zum Erliegen.[7] Seitdem scheint sich ein Mantel des Schweigens über dieses Thema gelegt zu haben. Trotz der vielen deutsch-deutschen Fraueninitiativen wie u. a. der Ost-West-Frauenbrücke und dem Engagement von Ost- und Westakteur*innen, besteht in den Frauenbewegungen in Ost und West eine Ungleichverteilung von ökonomischem, sozialem und kulturellem Kapital. Unbenommen ist, dass auch innerhalb der westdeutschen Frauenbewegung große Unterschiede bestanden und bestehen. Mir geht es hier um die strukturelle Betrachtung, nach der noch in vielen Bereichen ein ungleiches Verhältnis zwischen Ost und West existiert und auch feministische Bewegungen betrifft: die feministische Theorieproduktion, die Besetzung von Führungspositionen in Frauenorganisationen und Redaktionen feministischer Zeitschriften oder die feministische Geschichtsschreibung sowie Erinnerungskultur. Für letzteres möchte ich Ihnen zumindest ein Beispiel nennen: 2018 war das 50-jährige Jubiläum des Tomatenwurfs. Dieses Ereignis ist ein zentraler Moment der neuen westdeutschen Frauenbewegung und war mit zahlreichen Artikeln, Publikationen, Tagungen und Veranstaltungen sehr präsent. Nur ein Jahr später, 2019, das 30-jährige Gründungsjubiläum des Unabhängigen Frauenverbandes – ebenso ein zentraler Moment der darin zusammengeschlossenen ostdeutschen Frauen. Was war da?
Dieses Beispiel zeigt: Die jeweiligen Bewegungsgeschichten werden nicht gleichermaßen erzählt oder wahrgenommen. Die Geschichte der westdeutschen Frauenbewegung wurde zur hegemonialen Erzählung eines gesamtdeutschen Feminismus. Hier braucht es eine Sensibilisierung innerhalb der Bewegung – und vor allem der Medien, Politik und Wissenschaft.
Obwohl vor allem ostdeutsche Wissenschaftlerinnen wie Hildegard Maria Nickel oder Ingrid Miethe seit den frühen 2000er Jahren immer wieder mahnen, die „offene Aufarbeitung“ dieses Ungleichheitsverhältnisses anzugehen, ist das nach wie vor bestehende asymmetrische Verhältnis von Ost- und Westfrauenbewegung noch immer zu selten Gegenstand kritischer Auseinandersetzungen oder Forschungen.[8] Dabei haben wir die geeigneten Analysekonzepte längst zur Verfügung. Seit einigen Jahren wird verstärkt unter dem Stichwort Intersektionalität über Dominanzverhältnisse und Mehrfachdiskriminierungen geforscht und auch innerhalb feministischer Bewegungen diskutiert. Was meint der Begriff „Intersektionalität“? Das von Kimberlé Crenshaw geprägte Analyseinstrument ermöglicht es aufzuzeigen, wie soziale Kategorien in Macht- und Diskriminierungsverhältnissen wie u. a. Geschlecht, Herkunft oder Klasse mehrdimensional wirken, miteinander verwoben sind, daher diverse Lebensrealitäten erzeugen, die unterschiedliche Wahrnehmung erfahren und Maßnahmen bedürfen. Aus meiner Sicht kann und sollte dieser zentrale Ansatz um die Kategorien Ost-West erweitert werden, nicht um zu trennen, sondern um das frühere und teils noch bestehende Disparität und konkrete strukturelle Benachteiligungen und Diskriminierungen analytisch zu fassen.
Zugleich kann der intersektionale Ansatz auch für den Ostfeminismus selbst fruchtbar gemacht werden. Lange herrschte auch hier ein Ungleichverhältnis zugunsten weißer Frauen. Mittlerweile erringen und erhalten immer mehr Stimmen, das Wissen und die Erinnerungen z. B. afrodeutscher oder vietnamesischer Frauen Raum und erzählen aus ihrer Perspektive über die DDR und Transformationsjahre. Hier sind vor allem Akteurinnen wie zum Beispiel Peggy Piesche, Samirah Kenawi, Mai-Phuong Kollath oder auch Katharina Warda zu nennen. Nicht zu vergessen ist auch eine neue Generation junger Sorbinnen wie dem in der Niederlausitz angesiedelten Kollektiv Wakuum, die in ihrem Aktivismus den Feminismus selbstverständlich miteinbeziehen.
Die zweite Ursache, die ich hier aus Zeitgründen nur umreiße, ist der Mythos sogenannter Ostfrauen.[9] Während im Jubiläumsjahr 2019 der ostdeutsche Feminismus mit seinem Aufbruch und seiner Bedeutung für die Revolution 1989 wenig öffentliche Wahrnehmung erfuhr, wurden stattdessen über Schlagzeilen und Buchtitel wie u.a. „Die Macht ist weiblich und ostdeutsch“, „Ostfrauen verändern die Republik“, „Ostfrauen. Selbstbewusst. Unabhängig. Erfolgreich“ oder „Ost-Frauen: Die Anpassungsweltmeisterinnen“ ein Narrativ der Ostfrau befördert – häufig garniert mit Bildern von vor allem weißen Frauen in Dederon-Kittelschützen, mit Bauhelmen auf dem Kopf oder mit Hochglanzfotos aus der Zeitschrift „Sybille“ – die in der DDR selbst eher Bückware war. Ich halte dieses Narrativ mittlerweile für sehr gefährlich, nicht nur weil er den Ostfeminismus auf vermeintliche Erfolgsgeschichten reduziert, sondern meines Erachtens auch für die gegenwärtigen frauen- und geschlechterpolitischen Schieflagen in Ostdeutschland sowie für die künftigen feministischen Kämpfe keinen Ansatz bietet – sogar kontraproduktiv ist.
Frauen in der Coronapandemie – Transformationserfahrungen
Die 1990er Jahre waren aus frauenbewegter und -politischer Sicht nicht nur ein Jahrzehnt des Aufbaus und des Neuanfangs. Sie waren zugleich ein Krisenjahrzehnt. Die fundamentalen Wandlungsprozesse im Zuge der Transformation verlangten den ostdeutschen Frauen sehr viel ab.
Derzeit ist wieder verstärkt vom „politischen Umbruch“ oder von einer „Zeitenwende“ die Rede. Doch was sind heute die „großen“ Frauenfragen? Aus meiner Sicht ist es gleich ein ganzer Strauß an Problemfeldern: die Gefährdung unserer demokratischen Grundordnung durch rechtsextreme Kräfte inner- und außerhalb des Parlaments, damit verbunden eine stete Zunahme von Antifeminismus, Antisemitismus und Rassismus, die Corona-Pandemie, die Inflation und Energiekrise sowie die Klimakrise.
Obwohl wir seit den 1990er Jahren andere gesetzliche und institutionelle Rahmenbedingungen haben (z. B. Kinderbetreuung oder ab dem 1. Oktober 2022 den neuen gesetzlichen Mindestlohn, von dem vor allem Frauen und ostdeutsche Arbeitnehmer:innen profitieren sollen) bestehen multiple strukturelle Schieflagen weiterhin fort. Und sie bieten keinen ausreichenden Schutz vor einem Backlash in längst überholt geglaubte Rollenmuster. Dies führte uns die Corona-Pandemie drastisch vor Augen. Wie zahlreiche Studien belegen, waren und sind vor allem Frauen von den Folgen der Pandemie betroffen. Sie verantworteten hauptsächlich die Kinderbetreuung und das Home-Schooling. Frauen in den „systemrelevanten Berufen“ arbeiten bis heute bis zur physischen und psychischen Erschöpfung. Der Applaus ist verklungen, die Unterbezahlung und mangelnde Wertschätzung bzw. fehlende politische wie gesellschaftliche Aufwertung ihrer Arbeit sind geblieben.
Als wäre das alles nicht genug, verschärfen derzeit die Inflation, die steigenden Energiepreise und die Klimakrise die ohnehin dramatische Lage der Frauen – insbesondere jene, die ohnehin schon wegen ihrer sozialen oder ethnischen Herkunft benachteiligt sind. Auffällig ist, dass aus den gegenwärtigen Diskussionen die Frauen als politische Subjekte wieder nahezu verschwunden sind. „Kinder“ und „Familien“ werden inhaltlich zentriert. Die Leerstelle „Frau“ bzw. „Geschlecht“ ist dabei jedoch gefährlich. Die konstante Einbeziehung von Frauen und des Geschlechterparadigmas ist eine politische Wahl, weil sie darüber entscheidet, was wir unter Politik verstehen und welche politischen Maßnahmen ergriffen werden, um die Krisen langfristig und geschlechtergerecht zu überwinden.
Wie sieht unter diesen Voraussetzungen die Zukunft des Feminismus aus, wenn sich die Gegenwart bereits als prekär erweist?
Fazit
Ein Patentrezept kann ich Ihnen heute nicht bieten, aber mit Blick auf die anschließende Diskussion möchte ich folgende Anregungen und Gedanken mitgeben:
An die anwesenden Studierenden und Nachwuchsakademiker:innen möchte ich appellieren: Nutzen Sie die aktuelle Renaissance der Transformationsforschung und die bereits laufende Historisierung der 1990er Jahre für ihre wissenschaftlichen Qualifikationsarbeiten. Die Quellenlage ist ausgezeichnet, denn vor allem ostdeutsche feministische Archive wie in Rostock/Schwerin, Leipzig, Berlin und Dresden haben in den vergangenen Jahren gezielt Material gesammelt, Interviews mit Zeitzeug:innen geführt und dieses Material auch im Digitalen Deutschen Frauenarchiv aufbereitet. Nutzen Sie Ausstellungen wie aktuell die über die Potsdamer Fraueninitiative für weitere Forschungen, denn sie zeigen die Vielfalt deutschsprachiger feministischer Bewegungen auf.
Die Auseinandersetzung mit der eigenen Geschichte ist wichtig, um die Gegenwart zu verstehen. Der intergenerationelle Austausch, der das Transformationswissen von Frauen aus den 1990er Jahren miteinbezieht und den Fokus auf deren Verhaltens- und Bewältigungsstrategien richtet, ist ein Gewinn für die Entwicklung von Lösungsansätzen von gegenwärtigen Transformationsprozessen (z. B. in der Lausitz) und sollte unerlässlich sein. Die Brandenburgische Landtagsabgeordnete der Grünen Ricarda Budke hat es auf den Punkt gebracht: „Die Perspektive von Frauen ist wichtig, um bei den geplanten Veränderungen der Strukturpolitik berücksichtigt und mitgedacht zu werden.“ Veranstaltungen wie „Struktur wandel dich – Struktur, wir wandeln dich! Mehr Geschlechtergerechtigkeit im Strukturwandel“, am 16. September in Spremberg, weisen hier den Weg in die richtige Richtung.
Aber sie sind nicht nur für die Lausitz von zentraler Bedeutung. Sehr geehrte Anwesende. Mit Blick auf die von mir benannte gefährliche Leerstelle „Frauen“ möchte ich an Sie appellieren: Es ist an der Zeit, uns (wieder) Gehör zu verschaffen. Lassen Sie uns aus den drohenden „heißen Herbst“ einen feministischen Herbst machen – solidarisch und inklusiv und auch vereint in der frauenpolitischen Verbandsarbeitet, die ost- und westdeutsche Realitäten miteinbindet. Die vergangenen 30 Jahre des Frauenpolitischen Rates Brandenburg haben zeigt, dass wir dazu die Kraft haben.
Weitere Informationen
“Wer nichts fordert, bekommt auch nichts!” 30 Jahre Frauenpolitischer Rat Land Brandenburg e.V.
Verweise
[1] Fraueninitiative Leipzig im Neuen Forum, Programmentwurf vom 18. Oktober 1989, 4 S., hier S. 2.
[2] Ebenda.
[3] Ebenda.
[4] Dölling, Irene: Frauenpolitischer Aufbruch 1989 – Ambivalenzen unseres Erbes eines „frauenpolitischen Experiments“, in: Dies. et al. (Hg.): Frauenaufbruch 89. Was wir wollten – was wir wurden, Berlin 2011, S. 17‒29, hier S. 29.
[5] Schäfer, Eva: Vorwort, in: Dies. et al. (Hg.): Frauenaufbruch 89. Was wir wollten – was wir wurden, Berlin 2011, S. 7‒10, hier S. 8.
[6] Siehe hier ausführlich: Bock, Jessica: 1968 – 1989. Narrative in den Eigengeschichten der ost- und westdeutschen Frauen-bewegungen im Vergleich, in: WerkstattGeschichte, H. 83, Hamburg 2021, S. 163‒174.
[7] Bock, Jessica: Kein einig Schwesternland. Über die bestehende Un-Einigkeit zwischen ost- und west-deutscher Frauenbewegung, in: Femina Politica. Zeitschrift für feministische Politik-wissenschaft, 28. Bd., 2019, H. 2, S. 121‒130.
[8] Miethe, Ingrid: Dominanz und Differenz. Verständigungsprozesse zwischen feministischen Akteurinnen aus Ost- und Westdeutschland, in: Schäfer, Eva et al. (Hg.): Irritation Ostdeutschland. Geschlechterverhältnisse seit der Wende, 2005 Münster, S. 218‒234. Nickel, Hildegard Maria: Zum 20. Jahrestag des Mauerfalls – Eine Bilanz aus ostdeutscher feministischer Perspektive, in: Femina Politica, Bd. 18, 2009, H. 2, 107‒111.
[9] Bock, Jessica: Emanzipierter, selbstbewusster, freizügiger oder: Die ewig Andere? Betrachtungen zur Ostfrau und ihrer Sexualisierung, in: Gerbergasse 18. Thüringer Vierteljahreszeit-schrift für Zeitgeschichte und Politik, H. 95, Jena 2020, S.27‒32.