Alles – Das Bundestagswahlprogramm der Grünen

Bei der Bundestagswahl 2013 erhielten Bündnis 90/Die Grünen 8,4 Prozent der Zweitstimmen und zogen mit 63 Abgeordneten in den Bundestag ein. Sie stellen damit die kleinste Fraktion im aktuellen Bundestag. 34 Abgeordnete sind Frauen. Das ist mehr als die Hälfte der Grünen-Fraktion.

Die Landesliste in Brandenburg hat sechs Plätze; drei Frauen und drei Männer stehen drauf. Hier kann man die Direktkandidierenden für die einzelnen Wahlkreise nachschauen. Katrin Göring-Eckardt und Cem Özdemir führen den Bundestagswahlkampf als Spitzenduo an.

Die Partei hat eine bewegte Geschichte, die bis in die 1970er Jahre zurück reicht und voller ikonischer Momente ist, die sich in unser kollektives Gedächtnis eingegraben haben. Von 1998 bis zu den vorgezogenen Neuwahlen 2005 regierte die Partei als kleine Koalitionspartnerin gemeinsam mit der SPD. Seitdem ist sie in der Opposition, doch das soll sich wieder ändern.

Das Bundestagswahlprogramm der Grünen heißt „Zukunft wird aus Mut gemacht.“ und zielt eindeutig auf eine erneute Regierungsbeteiligung ab. Die Grünen möchten sich scheinbar als Klassenbeste hervortun. Das Programm ist konsequent gegendert und hat satte 247 Seiten.

Einschüchternde Textmasse

In der Einleitung heißt es: „Diese Bundestagswahl ist wichtig, vielleicht historisch.“ (S. 7) Es werden die großen Herausforderungen unserer Zeit skizziert, aber auch viel Mut gemacht. „Wir sind die erste Generation, die die Auswirkungen der Klimakrise spürt – und die letzte, die etwas dagegen tun kann.“ (S. 9) Besonders gut gefällt mir, dass im Zusammenhang den großen Fluchtbewegungen der letzten Jahre, die Zivilgesellschaft gewürdigt wird: „Millionen Bürgerinnen und Bürger haben in den vergangen Jahren ehrenamtlich geholfen, Menschen auf der Flucht Schutz und eine neue Heimat zu bieten. Ihnen gebührt unser ausdrücklicher Dank!“ (S. 8) Hier wird auch gegen Verdrossenheit argumentiert. „Politik ist nicht machtlos. […] Es macht einen Unterschied, wer regiert. Deshalb ist Ihre Stimme bei der Wahl entscheidend.“ (S. 12)

Nach der Einleitung folgen vier große Kapitel und am Ende ein Zehn-Punkte-Plan. Die vier Kapitel haben zwischen fünf und sieben Unterkapitel, die wiederum aus drei bis sieben Unterpunkten bestehen. Jedes Kapitel und jedes Unterkapitel hat eine eigene Einleitung. Die Sprache ist poetisch und in Teilen ungewohnt emotional für ein Wahlprogramm. Am Ende jedes Unterkapitels werden praktischerweise drei konkrete Projekte zusammengefasst. Das macht die Textmasse schon etwas weniger einschüchternd, aber selbst diese konkreten Projekte summieren sich.

Im gesamten Programm gibt es insgesamt 24 Unterkapitel, das ergibt 72 Projekte. Einige davon sind echte Mammut-Aufgaben, z.B.: „Wir wollen die Selbstbestimmung von Menschen mit Behinderung stärken. Dafür werden wir die VN-Behindertenrechtskonvention konsequent umsetzen. Wir wollen, dass es keine Sonderwelten gibt, sondern Menschen mit Behinderung uneingeschränkt teilhaben können am Leben in der Gesellschaft. Menschen mit Behinderung sollen frei darüber entscheiden können, wo und wie sie wohnen. Auch darüber, welche Assistenz, Pflege oder pädagogische Unterstützung sie möchten.“ (S. 127)

Der etwas ausufernde Aufbau des Programms, mit immer wieder neuen Einleitungen, ist aber nur ein Grund für die rekordverdächtige Länge. Der zweite ist dieser hier: Die Grünen wollen alles. Alles!

Die Partei hat ganz offensichtlich ihre Hausaufgaben gemacht. Sie steckt tief im Thema und geht ins Detail. „Der Atomausstieg in Deutschland ist so lange unvollständig, wie wir weiter Europas Atomreaktoren mit Brennelementen versorgen. Als GRÜNE wollen wir deshalb die Urananreicherung in Gronau und Brennelementefabrik in Lingen schließen.“ (S. 55)

Kein Thema ist zu klein oder abseitig. Hier werden Bereiche bearbeitet, die von den anderen Parteien, zumindest auf Bundesebene, nicht erwähnt werden. Die Diskriminierung von Roma und Sinti (S. 120) wird genauso thematisiert wie Finanzierung von Studien zur Erforschung der medikamentösen Prophylaxe vor HIV-Infizierung (S. 124).

Probleme werden dabei immer auch global gedacht. „Wir recyceln unsere Rohstoffe, beenden die schädlichen Subventionen für die Agrarindustrie, die zum Billigexport von europäischen Lebensmitteln in alle Welt führen, und stoppen die Überfischung vor Afrikas Küsten.“ (S. 16)

Die Grünen haben auch gut im Blick, wie die verschiedenen Politikfelder miteinander verflochten sind. Unsere Ernährung hat nicht nur etwas mit Tier- und Klimaschutz zu tun. „Die wachsenden Fleischexporte führen zu traurigen Rekordzahlen in den Schlachthöfen, wo prekäre Beschäftigungsbedingungen oftmals den Arbeitsalltag prägen.“ (S. 27)

Würde ich jetzt, wie bei den anderen Parteien, die Kapitel einzeln durchgehen und die wichtigsten Punkte zusammenfassen, kontextualisieren und gelegentlich kommentieren, wären wir alle morgen noch hier. Das Programm ist so vollumfänglich, dass ich dem breiten Themenspektrum an dieser Stelle unmöglich gerecht werden kann.

Bei fast allen Themen liegt für die Grünen die Antwort in mehr Geld und Regulation vom Bund. Damit gehen sie sozusagen genau den entgegengesetzten Weg zur FDP, die die Regierung eher aus dem Leben der Menschen heraushalten will.

Kernkompetenz Umweltschutz

Das erste Kapitel widmet sich, wie zu erwarten, dem Kernthema der Grünen. Es dreht sich um Umwelt- und Klimaschutz. Zum Schutz des Wassers wird Fracking nachdrücklich abgelehnt. (S. 18) Beim Thema Pflanzen- und Tierschutz gibt es diese schöne Stelle: „Heute kann man von Flensburg nach Freiburg fahren, ohne immer wieder die Frontscheibe seines Autos von Insekten reinigen zu müssen. Das ist keine gute Nachricht.“ (S. 21) Ohne diesen zweiten Satz, hätten viele wohl das Anliegen falsch verstanden.

Die industrielle Massentierhaltung soll in den nächsten 20 Jahren vollständig abgeschafft werden. (S. 27) „In Schulen und Ausbildung sollen die globalen Folgen unserer Lebensmittelproduktion thematisiert und verdeutlicht werden.“ (S. 27)

Auch die private Tierhaltung soll sich ändern. „Aus Tier- und Artenschutzgründen wollen wir eine rechtskonforme Positivliste mit den Tierarten, die privat gehalten werden können, aufstellen und Haltungsvoraussetzungen formulieren wie etwa Sachkundenachweise für bestimmte Tierarten.“ (S. 31)

Die Grünen sind der Meinung, dass die Große Koalition die Realität der Klimakrise ignoriert. Sie möchten ein bundesweites Klimaschutzgesetz, damit die Klimaziele 2050 auch erreicht werden können. (S. 34) Ein zentrales Element, welches auch im Zehn-Punkte-Plan formuliert wird, ist der Kohleausstieg. „Wir GRÜNE wollen in den nächsten vier Jahren unsere volle Energie dafür einsetzen, den Kohleausstieg unumkehrbar einzuleiten.“ (S. 35) Dafür sollen die dreckigsten 20 Kohlekraftwerke sofort vom Netz. (S. 39)

Im gesamten Kapitel kommt übrigens immer wieder die schöne Formulierung „dass Preise die ökologische Wahrheit sagen“ (z.B. S. 41). Die Grünen sind sich bewusst, dass die Rettung der Umwelt uns alle etwas kosten wird.

Dieses Bewusstsein erscheint auch im Kapitel zur Industriepolitik. Eine Zeitenwende weg von der Umweltzerstörung des Industriezeitalters birgt sozialen Sprengstoff. Die Grünen möchten jedoch verhindern, „dass Wolfsburg oder Stuttgart das Detroit von morgen werden.“ (S. 43) Ich frage mich, wieviele Leute in Deutschland wissen, was damit gemeint ist. Detroit, als ehemalige Autoindustriestadt, ist heute hauptsächlich für seine vielen wohnungslosen Menschen bekannt.

Die ökologische Modernisierung wird hoffnungsvoll als Jobmotor beschrieben, es wird aber auch ehrlich zugegeben, dass in anderen Geschäftsbereichen Stellen unwiederbringlich verloren gehen werden. Hier wollen die Grünen für eine gute soziale Absicherung, Weiterbildung und neue Chancen sorgen. (S. 43) So oder so soll es kein zurück mehr geben. „Die Steinzeit endete, obwohl es noch unzählige Steine gab – und das fossile Zeitalter muss enden, obwohl es noch jede Menge Kohle, Gas und Öl im Boden gibt.“ (S. 43)

Beim Thema Mobilität möchten die Grünen eine LKW-Maut, lehnen aber die gerade beschlossene PKW-Maut ab und möchten sie gerne zurück nehmen. (S. 58) Dem ticketfreien ÖPNV sind sie sehr aufgeschlossen gegenüber und möchten Modellprojekte in dieser Richtung fördern. (S. 59)

„Ab 2030 sollen nur noch abgasfreie Autos neu zugelassen werden. Das Zeitalter des fossilen Verbrennungsmotors ist dann zu Ende.“ (S. 61) Die Grünen streben auch die „Vision Zero“ an. Die Zahl der Verkehrstoten soll sich auf null reduzieren. Um das zu erreichen, soll es ein Tempolimit auf Autobahnen von 120 km/h geben. (S. 62)

Die Partei zeigt in diesem Kapitel, dass sie grundlegend umwälzende Ideen hat. Der Gründungsgedanke der Grünen, unumstößlich scheinende Dinge trotzdem umzustoßen, ist immer noch deutlich erkennbar, auch wenn die Partei mittlerweile längst zum Establishment gehört.

Wir in der Welt

Im nächsten Kapitel geht es um Außenpolitik und alles was Deutschland im Kontext der Welt betrifft. Die Grünen wollen sich mitnichten raushalten. „Wir GRÜNE wollen, dass Deutschland mehr tut, um Konflikte und Krisen zu lösen oder besser noch, sie zu verhindern.“ (S. 67) Die Globalisierung soll nicht zurückgedreht, sondern nachhaltig, ökologisch und gerecht gestaltet werden. (S. 67)

Die Europäische Union ist ein zentrales Element der grünen globalen Politik. Sie soll gestärkt werden. Damit Menschen die EU erlebbarer empfinden, schlagen die grünen so schöne Ideen vor, wie ein kostenloses Interrail-Ticket zum 18. Geburtstag oder einen gemeinsamen Nachrichten- und Bildungssender, der auch auf Russisch und Türkisch zur Verfügung steht. (S. 71) „Ein Europa der unterschiedlichen Geschwindigkeiten darf nicht der Standardmodus, muss aber möglich sein.“ (S. 71) Diese Formulierung habe ich schon mal gelesen – im Programm der FDP.

Die Grünen haben eine ganze Reihe konkreter Vorschläge für eine Reform der politischen Institutionen der EU. Das direkt gewählte Europäische Parlament soll dabei das Herzstück und Ort aller europäischen Entscheidungen werden. Es soll Verfahrensänderungen geben beim Mißtrauensvotum, der Transparenz und bei Bürger*inneninitiativen. (S. 74) Auch an dieser Stelle demonstriert das Programm detailliertes Wissen der Materie. Als Lesende ohne dieses Wissen, wirkt der Absatz schnell ziemlich technisch.

Die Außen-, Entwicklungs-, Friedens- und Sicherheitspolitik in Europa soll stärker gemeinsam angegangen werden, denn wir leben in „einer Zeit, in der sich durch die aggressive Großmachtpolitik Russlands unter Präsident Putin, die von Abschottung und nationalistischem Denken geprägte Politik des amerikanischen Präsidenten Trump und die vielen Krisenherde im Nahen Osten und in Nordafrika die Rahmenbedingungen für die Sicherheit in der EU grundlegend ändern.“ (S. 75)

Beim Absatz über die Türkei fällt das Programm angenehm auf, da es eine klare Unterscheidung zwischen der türkischen Zivilgesellschaft und der Regierung macht. Erdoğans Politik wird verurteilt, der zivilen Opposition wird Solidarität ausgesprochen. „Politisch Verfolgte sollen in der EU Zuflucht finden und der Visumszwang abgeschafft werden.“ (S. 76)

Beim Thema Flucht positionieren sich die Grünen ausdifferenziert zur Großen Koalition. „Die deutsche Bundesregierung hat zuerst mit Humanität reagiert. Dafür hatte sie unsere Unterstützung. Doch leider hat sie sich von dieser Politik schnell abgewendet. Das Asylrecht hat sie massiv verschärft und zusammen mit anderen europäischen Regierungen betreibt sie die Abschottung der EU.“ (S. 98) Die Grünen wollen den Türkei-Deal beenden, da sie die dramatische Situation Geflüchteter in der Türkei nicht billigen will. (S. 103) Asylrechtsverschärfungen lehnen sie ab. „Der Regierungspolitik liegt der Irrglaube zugrunde, dass ein unattraktives Asylrecht Flucht verhindert.“ (S. 105) Das Konzept der „sicheren Herkunftsstaaten wollen sie abschaffen und es wird mit den Grünen auch keine Obergrenze für Geflüchtete geben. (S. 105)

Bei der Betreuung und Unterbringung von Geflüchteten hat das Programm hehre Ziele. Der unbedingte Schutz vor jeder Gewalt, insbesondere für Frauen und Kinder, soll sichergestellt werden. (S. 106) Auch deshalb „brauchen wir einen schnellen Wechsel von Massenunterkünften in Wohnungen und dafür ausreichend bezahlbaren Wohnraum.“ (S. 107) Die Vorteile von bezahlbarem Wohnraum sind unbestritten, nur woher nehmen?

Beim Thema Einwanderung will die Partei große Veränderungen. Bildungs- und Berufsabschlüsse sollen schneller und großzügiger anerkannt werden. (S. 113) Menschen, die hier geboren werden, sollen automatisch die deutsche Staatsangehörigkeit erhalten und doppelte Staatsbürgerschaft soll möglich werden. (S. 113f) Die Integration soll sich dabei nicht an einer diffusen Leitkultur orientieren sondern an Grundgesetz, Grund- und Menschenrechten. „In unserem gemeinsamen Land gilt das für alle, egal ob sie aus Dresden oder Damaskus kommen.“ (S. 113) Damit Fachkräfte nach Deutschland kommen, soll es eine „Einwanderungsquote mit Punktesystem“ (S. 114) geben.

Gleichstellung überall

Das Kapitel zur Gleichstellung beginnt kämpferisch. „Die Hälfte der Macht den Frauen, das ist seit unserer Gründung unser Anspruch. Unsere Parteigeschichte ist geprägt vom Feminismus und von Frauen, die ihre Rechte durchsetzen – mit den Männern wenn möglich, gegen sie wenn nötig.“ (S. 128)

„Wir verstehen feministische Politik konsequent als eigenständiges Politikfeld mit einer Querschnittsaufgabe, die alle anderen Gesellschaftsbereiche durchdringt.“ (S. 128) Und tatsächlich werden die Bedürfnisse von Frauen und Mädchen nicht nur in diesem Kapitel sondern an so vielen Stellen im Programm erwähnt, dass ich hier unmöglich alle aufzählen kann. Die Grünen zeigen auch, dass sie Intersektionalität kennen und verstehen. „Wir wissen, dass es mehrfache Diskriminierungen gibt. Eine Frau Özlem hat größere Probleme auf dem Arbeitsmarkt als Frau Müller.“ (S. 129)

Das Ehegattensplitting ist eine Hürde für die Erwerbstätigkeit von Frauen und soll daher abgeschafft werden. Stattdessen soll es Individualbesteuerung und eine gezielte Förderung von Familien mit Kindern geben. (S. 130) Die Grünen möchten eine 50-Prozent- Frauenquote für die 3.500 börsennotierten und mitbestimmten Unternehmen. (S. 131)

Gewalt gegen Frauen, ob im öffentlichen Raum oder häuslichem Umfeld, soll konsequent verfolgt und bestraft werden. (S. 131) „Wir wollen für eine sichere Finanzierung von Frauenhäusern unter Beteiligung des Bundes sorgen und damit sicherstellen, dass keine Frau in Not abgewiesen werden muss.“ (S. 131f)

Über unsere Körper sollen wir alle selbst bestimmen können. Das bedeutet auch wohnortnahe Unterstützung und Hilfe bei ungewollter Schwangerschaft und unkomplizierter Zugang zu Verhütungsmitteln. (S. 133) Erst beim zweiten Mal Lesen fällt mir auf, dass das Programm sich elegant aus der Affäre zieht, bei der Frage ob Schwangerschaftsabbrüche legal sein sollten. Das sind sie in Deutschland im Moment nicht und die Grünen schweigen sich zumindest an dieser Stelle darüber aus, ob das geändert werden sollte. Die Hebammenarbeit soll gesichert werden. (S. 134)

Beim Thema Sicherheit fällt positiv auf, dass die Grünen die Dinge beim Namen nennen. „Die terroristischen Anschläge der jüngsten Vergangenheit wie am Breitscheidplatz in Berlin, die zahllosen Angriffe auf hier schutzbedürftige Menschen, aber auch die Erkenntnisse aus den NSU-Untersuchungsausschüssen offenbaren die Notwendigkeit, die Sicherheitsbehörden für die aktuellen Bedrohungen besser aufzustellen.“ (S. 137) Ja, die Anschläge auf Unterkünfte für Geflüchtete sind ebenfalls Terrorismus.

Ein eigener Unterpunkt gilt dem Kampf gegen rechts. „Rechtsextreme Fanatiker*innen, Reichsbürger*innen, Nazis und sogenannte Identitäre formieren sich.“ (S. 140) Jede Form der gruppenbezogenen Menschenfeindlichkeit wird von den Grünen verdammt. Der Kampf dagegen ist Aufgabe der Politik, aber auch allen zivilgesellschaftlichen Organisationen oder Aktionen wird Unterstützung zugesagt. (S. 141)

„Das Bundesamt für Verfassungsschutz ist dauerhaft auf dem rechten Auge blind und nicht in der Lage, für die Demokratie gefährliche Entwicklungen zu erkennen.“ (S. 141) Die Behörden sollen daher grundlegend reformiert werden. Der Verfassungsschutz soll durch ein neues Bundesamt zur Gefahrenerkennung und Spionageabwehr und ein unabhängiges Institut zum Schutz der Verfassung ersetzt werden. (S. 142) „Es soll dabei helfen, dass sich alle in diesem Land, von Punkerin bis Bankerin, von Sachse bis Syrer, sicher fühlen.“ (S. 144)

Zur Stärkung der Demokratie möchten die Grünen „Volksinitiativen, Volksbegehren und Volksentscheide in die Verfassung einführen“ (S. 148). Um die Unterrepräsentanz von Frauen in den Parlamenten zu beenden, möchte die Partei die Möglichkeit eines Partizipationsgesetzes prüfen. (S. 149) „Damit die Wahlbeteiligung und daraus folgend auch die Repräsentanz in den Parlamenten nicht vom sozialen Milieu abhängig bleiben, müssen die politischen Parteien direkter auf die Wähler*innen zugehen und eine verständliche Sprache verwenden.“ (S. 149) Ist ein Wahlprogramm mit über 200 Seiten der richtige Weg dafür?

Im Unterpunkt „Freie Medien stärken“ geht es um Journalismus und den öffentlich-rechtlichen Rundfunk und dann steht da ganz unvermittelt plötzlich das hier: „Millionen Menschen in unserem Land spielen Computerspiele, allein oder zusammen, spontan oder auch auf immer organisiertere Weise. Wir wollen die Computerspielekultur in ihrer Vielfalt und als E-Sport weiter stärken und prüfen, inwiefern sie als Sportart anerkannt werden kann.“ (S. 151f). Wie gesagt, dieses Programm lässt kein einziges Thema aus.

Da wir gerade bei Sport sind: „Programme gegen Rechtsextremismus im Sport wollen wir bündeln und eine weltoffene und vielfältige Fankultur fördern. Gleichzeitig schützen wir die Bürger*innenrechte von Fußballfans und diese vor ausufernden Datensammlungen und Kollektivstrafen.“ (S. 155)

Das Wahlalter soll bei allen Wahlen auf 16 herabgesetzt werden, denn „[w]er früh lernt, wählen zu gehen, setzt dies auch später fort und motiviert andere, auch zu wählen“ (S. 156). Ist das so? Gibt es dazu Daten? Das würde mich sehr interessieren.

Die Grünen möchten schnelles und offenes Internet für alle. Der Bund soll seine Telekom-Aktien verkaufen und mit dem so gewonnenen Geld den Glasfaserausbau vorantreiben. (S. 165) Die Verbreitung von Hass und Hetze im Netz wird mit Sorge beobachtet. „Im Netz muss erkennbar sein, ob Mensch oder Maschine kommunizieren. Wir fordern deshalb eine Kennzeichnungspflicht für Computerprogramme (Social Bots), die eine menschliche Identität vortäuschen und zu Zwecken der Manipulation und Desinformation eingesetzt werden können.“ (S. 166)

Gesamtsituation verbessern

Eine Maßnahme die die Bildungseinrichtungen unseres Landes voranbringen soll, ist dass Bund und Länder sich gemeinsam einbringen sollen. „Wir GRÜNE streiten weiter dafür, das Kooperationsverbot komplett aufzuheben. […] Wir wollen auch vergleichbare Schulabschlüsse in ganz Deutschland erreichen.“ (S. 177) Die Digitalisierung macht auch vor Bildung nicht halt. Die Grünen möchten, dass in Zukunft „digitale Kompetenzen zum Teil der Allgemeinbildung werden“ (S. 180).

Ein weiteres Unterkapitel behandelt Wohlstand und Gerechtigkeit. Die Finanzmärkte sollen besser reguliert werden, damit sie wieder der Gesellschaft und Realwirtschaft dienen. „Statt der derzeit sehr komplexen wollen wir einfachere, aber härtere Regeln.“ (S. 191) Ich bin leider keine Expertin für das Finanzwesen, aber diese Formulierung lässt meine Populismus-Alarmglocken schrillen.

Die steuerliche Abzugsfähigkeit von Gehältern und Abfindungen in der Führungsetage sollen gedeckelt werden, damit nicht mehr eine so überzogene Diskrepanz zwischen ihnen und den Gehältern der Belegschaft besteht. (S. 192) Ebenso sollen die Lohnunterschiede zwischen den Geschlechtern endlich behoben werden. „Wir setzen und für ein echtes Entgeltgleichheitsgesetz, die bessere Bezahlung von typischen Frauenberufen sowie eine funktionierende Frauenquote ein.“ (S. 193)

„Wir GRÜNE wollen eine verfassungsfeste, ergiebige und umsetzbare Vermögenssteuer für Superreiche.“ (S. 194) Unternehmen sollen sich nicht weiter durch Tricks der Besteuerung entziehen können und Schlupflöcher sollen gestopft werden. (S. 196) Dafür dass die Grünen für viele Dinge sehr viel Geld ausgeben wollen, ist das Kapitel zu Steuern relativ kurz.

Die Grünen stehen der Idee des bedingungslosen Grundeinkommens offen gegenüber und möchten es in einem Modellprojekt erproben. (S. 198) Es soll eine neue Garantierente geben, die steuerfinanziert ist, oberhalb der Grundsicherung liegt, und auf die andere Formen der Altersvorsorge nicht angerechnet werden sollen. Es soll auch keine Bedürftigkeitsprüfung erfolgen. (S. 198)

Die „Zwei-Klassen-Medizin“ (S. 200) soll abgeschafft und der Weg frei gemacht werden zu einer allgemeinen Bürger*innenversicherung, in der alle sind, auch Selbständige und Gutverdienende. Damit wäre „Gesundheit stabil, zukunftsfest und fair finanziert und alle Kassen würden auf Grundlage eines weniger manipulationsanfälligen Risikoausgleichs um die beste Versorgung konkurrieren.“ (S. 202)

Das Programm bekennt sich zu Impfungen, aber so vorsichtig und leise, dass der Verdacht aufkommt, Impfgegnerinnen und -gegner sollen nicht verschreckt werden. „Wir wollen einen möglichst großen Infektionsschutz der Bevölkerung, auch im Interesse derjenigen, die nicht geimpft werden können. Dafür setzen wir auf freiwillige Beratung und bessere Information.“ (S. 202) Um freiberufliche Hebammen zu unterstützen, soll es eine gesetzliche Haftpflichtversicherung für Hebammen und andere Berufe geben. (S. 202)

Beim Thema Pflege will das Programm wieder alles. „Statt weiterer Großeinrichtungen setzen wir dabei auf einen umfassenden Ausbau an ambulanten Wohn- und Pflegeformen. Notwendig sind auch Tages-, Nacht- und Kurzzeitpflege sowie Einrichtungen wie Quartiersstützpunkte oder Nachbarschaftszentren, die auch ‚rund um die Uhr‘ eine Pflege und Unterstützung sichern. Dabei müssen die unterschiedlichen kulturellen, religiösen, sexuellen oder geschlechtsspezifischen Identitäten der Menschen Eingang in die soziale Infrastruktur und Pflegekonzepte vor Ort finden.“ (S. 203) Pflegerinnen und Pfleger sollen besser bezahlt werden, es soll mehr von ihnen geben und grundsätzlich möchten die Grünen die Gesamtsituation verbessern. (S. 204)

Die Grünen erkennen, dass Familie in vielen Formen existiert. Sie wollen „eine neue Rechtsform schaffen, die das Zusammenleben zweier Menschen, die füreinander Verantwortung übernehmen, unabhängig von der Ehe rechtlich absichert.“ (S. 210) Das Elterngeld soll durch das neue Konzept „KinderZeit Plus“ abgelöst werden. Hierbei können Eltern auch nach dem ersten Geburtstag des Kindes die Arbeitszeit phasenweise reduzieren. (S. 210) „In der KinderZeit Plus erhält jeder Elternteil acht Monate finanzielle Unterstützung – weitere acht Monate können frei zwischen den Eltern aufgeteilt werden.“ (S. 214f)

Es soll ein großes Reform-Paket gegen Schwachstellen in der Familienförderung geschnürt werden. Insgesamt möchten die Grünen mit 12 Milliarden Euro Familien entlasten. (S. 212) Das Familien-Budget soll Kinderfreibetrag, Kindergeld, Kinderzuschlag und Kinderregelsatz zu einer einzigen unbürokratischen Leistung zusammenführen. (S. 213)

Ganz zuletzt wird noch die Digitalisierung besprochen. Die Grünen möchten, ähnlich wie die FDP, dass das Thema eigenständig im Kabinett vertreten ist. (S. 225) Die Digitalisierung verändert die Arbeitswelt und öffnet viele Möglichkeiten für Honorartätigkeiten. „Deshalb wollen wir ein allgemeines Mindesthonorar als absolute Untergrenze für zeitbasierte Dienstleistungen einführen und gleichzeitig branchenspezifische Mindesthonorare für bestimmte Werke und Dienstleistungen ermöglichen, die gut zu den jeweiligen Branchen passen.“ (S. 227f)

Der zum Schluss folgende Zehn-Punkte-Plan bringt noch einmal die allerwichtigsten Projekte auf den Punkt – von Klimaschutz über Gleichberechtigung bis zur Bekämpfung von Fluchtursachen. Die Grünen versprechen bei diesen Themen ihren vollen Einsatz und machen diese zehn Punkte zum Maßstab für Koalitionsverhandlungen. „Wir wollen den Stillstand und die Unentschlossenheit ablösen, die die Große Koalition bietet. Deshalb sind wir bereit, nach der Wahl mit allen Parteien außer der AfD zu sprechen, ob wir unsere Vorhaben umsetzen können.“ (S. 238)

Eine lange To-Do-Liste

Das Bundestagswahlprogramm der Grünen ist eine To-Do-Liste , die es in sich hat. All diese Vorhaben wären selbst bei einer Regierungsbeteiligung nicht in vier Jahren zu schaffen, vielleicht nicht mal in 40. An manchen Stellen macht das Programm es sich ein bisschen zu einfach mit der Unterscheidung zwischen gut und schlecht. „Wir richten unsere Politik an den Interessen der Menschen aus, nicht der Konzerne.“ (S. 164) Die Menschen, die für den Konzern arbeiten, haben aber teilweise Interessen, die mit den Interessen des Konzerns verschränkt sind.

Manchmal wirkt es, als ob das Programm fast schon zwanghaft versucht, es auch wirklich allen recht zu machen. Es soll in jeder kleinsten Ecke freies WLAN geben, aber eine „konsequente Minimierung der Strahlenbelastung“ (S. 165) ist auch wichtig. Kein Wunsch des grün-links schlagenden Herzens soll unerfüllt bleiben, in dieser paradiesischen Welt für die die Partei sich einsetzt.

Je weiter das Programm voranschreitet, desto öfter finden sich Absätze, die nicht weniger als den Idealzustand fordern. Zum Thema Bildung findet sich z.B. das hier: „Alle Kinder bekommen einen Anspruch auf einen Ganztagsplatz in einer guten Kita, die mehr als nur eine Betreuungseinrichtung ist und in der Kinder von null bis zur Einschulung ganzheitlich und interkulturell gefördert werden, in dem Erzieher*innen Zeit haben, jedes einzelne Kind zu unterstützen.“ (S. 176) Der Betreuungsschlüssel soll verändert werden. „Ein*e Erzieher*in soll künftig höchstens drei Kinder und drei Jahren beziehungsweise höchstens zehn ältere Kinder betreuen. […] Der Bund soll sich mit mindestens drei Milliarden Euro pro Jahr an den zusätzlichen Kosten beteiligen.“ (S. 181)

Das klingt schön und es wird nur wenig Menschen geben, die das nicht möchten. Ich finde es grundsätzlich auch sehr gut, viel zu wollen. Doch das Programm hat nicht nur eine Handvoll dieser großen Forderungen, sondern Dutzende und sagt bei einigen doch recht wenig dazu, wie die Dinge nun genau umgesetzt werden sollen. An diesen Stellen droht es, unglaubwürdig zu werden.

Wer es genauer wissen möchte, aber nicht den ganzen Roman lesen will, kann auf der Internetseite der Grünen fündig werden. Hier kann man sich kurze Zusammenfassungen zu den einzelnen Unterkapiteln durchlesen und direkt zu den relevanten Themen springen.

Wir sind am Ende angekommen und wie gehabt bitte ich nun still und heimlich oder laut und öffentlich um Bewertung dieses Programms. Die A-Note ist für Inhalt, die B-Note für Stil. Null ist schlecht und Neun ist hervorragend.

Bis dann denn,

Laura

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FRAUEN STIMMEN GEWINNEN ist ein Projekt des Autonomen Frauenzentrums Potsdam in Kooperation mit dem Frauenpolitischen Rat des Landes Brandenburg. Die Texte sind verfasst von Laura Kapp. Jennifer Hoffmann betreibt die Social Media Accounts.
Das Projekt wird finanziell gefördert durch die Brandenburgische Landeszentrale für Politische Bildung (Vielen Dank!). Anmerkungen, Ideen, Feedback, Kritik und Komplimente sind herzlich willkommen: per e-mail unter frauenstimmen@frauenzentrum-potsdam.de, auf Twitter @frauenstimmen oder auf Facebook.