„100 Jahre Frauenwahlrecht – Alles erreicht! … und weiter?“ – Eine feministisch-widerständige Schilderung
Die Sonne scheint mir warm ins Gesicht, als ich am 5. März auf das Stadthaus am Erich Kästner Platz in Cottbus zusteuere. Der Klinkerbau setzt sich farblich von der Gebäudekulisse rundherum ab. Sein warmes Rotbraun korreliert mit den vergilbten, langhalmig verwehten Gräseranpflanzungen auf dem Platz und passt zum blauen Himmel. Soeben habe ich noch den Berliner Platz überquert und wie so oft über die Kontraste im Stadtbild gestaunt: sozialistischer Wohnungsbau, eine erstaunliche Vielheit von Plattenbaukonstruktionen, treffen auf Gründerzeitbauten, auf Jugendstil, auf Stadthäuser und -villen.
Vor wenigen Wochen bin ich von Berlin nach Cottbus gezogen und die aktuelle Gemengelage, die aufgeheizte, polarisierte Stimmung und erstarkende (neu-)rechte Stimmungsmache erschweren mein Ankommen – mehr als gedacht. Ich vermisse Berlin. Ich vermisse meine Freund*innen und Gefährt*innen.
Doch jetzt, am Anfang des feministischen März, im „Mösenmonat März“ wie Laura Méritt so befreiend formuliert, liegt ein sich andeutendes Frühlingserwachen in der Luft und ich bin guten Mutes, als ich durch die Holztür ins Stadthaus eintrete. Im Erdgeschoss befindet sich der Trausaal – hier werden also auch Ehen für alle* geschlossen. Auf einem Bildschirm springen mir zwei goldene Ringe ins Gesicht und ich denke im Vorbeihuschen an die Zähheit von Heteronormativität – und ja, auch an die Heteronormalisierung von Homosexualität, aber dann auch an das Potenzial commonistisch-feministischer Umverteilungsbunde und Privilegiensicherung auf dieser weiten Flur der Eheschließungen für (fast) alle*!
Ich bin gut 15 Minuten zu spät, als ich den Treppenaufgang nach oben zum Saal eile. Der Andrang zur Veranstaltung ist sehr groß. Es gab über 200 Anmeldungen und ich bin heute Vormittag sehr kurzfristig nachgerückt. Beim Eintreten wird mir blitzschnell klar: ich muss meinen Erwartungs- und Erfahrungshorizont neu situieren und stärker mit der sich mir anbietenden Realität verweben. Plötzlich fühle ich mich mit meinen immerhin 33 Jahren wirklich sehr jung, geradezu androgyn mädchenhaft. Bereit mich einzulassen und meine Perspektiven einzubringen, ja neugierig auf die Andersheit und das Facettenreichtum der anderen Frauen* im Raum, nehme ich sodann beherzt auf einem der letzten freien Stühle in der letzten Reihe platz und möchte Stift und Notizbuch aus meinem zerfransten „Still lovin’ feminism“ Beutel zutage fördern – leider doch nicht eingepackt! –, also zücke ich mein älteres Handy mit zersprengtem Display und versuche mich fürs Mittippen zu rüsten. Doch erst einmal lausche ich gebannt den herzlichen Begrüßungsworten und eloquenten Ausführungen von Sabine Hiekel, der Gleichstellungsbeauftragten der Stadt Cottbus. Simultan dazu gesellen sich Bilder aus dem Film „Die göttliche Ordnung“ in meine Wahrnehmung und Realitätsdurchdringung. Der Film, den ich am Sonntagabend im Obenkino gesehen habe, kreist – ganz kurz gesagt – um die unterschiedlichen Frauenbestrebungen zur Erlangung des Frauenstimmrechts in der Schweiz im Jahr 1971. Auf dem steinigen und vielgestaltigen Weg dahin ließ die politische Komödie weder die Teilnahme an dem Yoni-Power-Workshop der Filmprotagonistin noch den kollektiv organisierten Fürsorgearbeitsstreik der Frauen im Dorf außen vor. So kann wieder – bzw. immer noch! – das befreiende Postulat „das Private ist politisch“ im Raum stehen, welches auch ich sowohl in Theorie während meines Studiums der Gender Studies durchdekliniert habe als auch in der Praxis beim Promovieren sehr persönlich erfahren musste. Und ist es nicht sowieso so, dass gute Theoriearbeit mit Praxis unmittelbar zusammenhängt? Dass Theorie der Versuch ist, Empirie zu verstehen, Realität zu durchdringen? Zumindest denke ich das, als Christina Giesecke, die Schirmherrin der 28. Brandenburgischen Frauen*woche, über die Kluft von Theorie und Praxis bei Frauen* in Führungspositionen und gesellschaftspolitischen Entscheidungsprozessen spricht und von den bestehenden vergeschlechtlichten Lohnunterschieden, erreichten sowie noch fehlenden Errungenschaften und Rechten von Frauen* und Mädchen – all dies gekonnt unter historischen Rückgriffen und ausgewählten zentralen Momenten der Frauen*bewegungen sowie in Rekurrenz auf das diesjährige Thema der Frauen*woche „Selber Schuld“. Während das Kinder- und Jugendensemble „Pfiffikus“ auf der Bühne abwechselnd verschiedene tänzerische, akrobatische, dichtkünstlerische und sängerische Darbietungen zeigt, schweifen meine Gedanken angenehm ab: Erst jetzt wird mir klar, dass mit Theorie hier verstärkt Gesetze, Rechtsprechung, Ansprüche und Wünsche gemeint waren und nicht Theoriearbeit als produktive und wechselseitige Kraft zur Organisation von Praxis in meiner Auffassung.
Dann widmen sich meine Gedanken dem diesjährigen Motto. Ich gestehe, ich empfinde diese aufgeworfenen oder aufgenommenen Schuldfragen als Zumutung, auch wenn ich verstehe, dass die Intention der thematischen Wahl darin begründet liegt, individualisierte Schuldzuweisungen zu problematisieren und einzubetten, sich dagegen zu stellen. Dennoch gefällt mir die im Schuldbegriff per se angelegte Kausalität und Determination nicht. Zum einen stört mich, dass bei Schuld eine christlich geprägte Konnotation durchscheint sowie eine moralische Tradition mitschwingt, die mir fragwürdig erscheinen. Zum anderen finde ich den Schuldbegriff statisch. Er blockiert Diskurse, Gespräche, Begegnungen; kurzum schafft eher Verstehensschranken, als diese anzuheben. Bei „Selber Schuld“ taucht außerdem als Kehrseite oftmals die Annahme auf, dass es einen optimalen Weg gegeben hätte, um eben nicht in der Schuldfalle zu landen. Und das erinnert mich persönlich leider unangenehm an reduktionistischen weißen Mittelschichtsfeminismus und die Neoliberalisierung des märchenhaften Diktums „jede*r ist Schmied*in seines*ihres persönlichen Glücks“. Zudem sind Entwicklungen, Gewordenheiten, Konflikte, Zustände und Missstände in Beziehungen, seien es persönliche, Liebes-, Freund*innenschafts- oder Arbeits- und Machtbeziehungen, kaum ausreichend mit dem Schuldparameter zu fassen, handelt es sich doch stets um wechselwirksame Dynamiken, um – im besten Falle gemeinsame – Selbst/Reflexionen, Aus- und Verhandlungsprozesse. Schuld suggeriert, so empfinde ich das, stets einen imperfekten Zustand, der sich als individualisiertes Problem verkleidet.
Ich höre weiter zu und merke, dass ich mir gelegentlich mehr Offenheit für einen pluralen und radikaleren Frauen*begriff wünschen würde; einen der diverse, nicht-binäre, trans/androgyne Weiblichkeitsentwürfe miteinschließt, auch mal Trans* und Inter*Person zu adressieren vermag und um multiple Konstellationen von Begehrensstrukturen, Lebens- und Liebesentwürfen weiß. Ein Frauen*begriff eben, der sich nicht so sehr am Mann und hegemonialer Männlichkeit ausrichtet und somit dem Androzentrismus mehr entkommen kann, nicht so sehr von diesem eingehegt wird. Wie es schon Sabine Hiekel im gelungenen offen Brief auf den Punkt gebracht hat: Männer* können gerne ihre eigene Woche organisieren, Männergruppen bilden, eine Bewegung formieren. Und tatsächlich: von der Väterarbeit bis zur kritischen Männerforschung gibt es eine Bandbreite an Vereinen, Organisationen, Foren, Treffpunkten etc., um sich zu engagieren und wo Mann sich austauschen kann.
Aber ich merke freilich auch, dass die heutige Veranstaltung bisher viele zentrale Schnittmengen mit meinem eigenen politischen Begehren sowie Frage- und Zielstellungen aufweist: die weiblichen Freiheiten zu vergrößern, zu vervielfältigen und zum Abbau der Dominanz- und Herrschaftsverhältnissen zwischen den Geschlechtern beizutragen. Dazu gehört für mich allerdings auch das Zweigeschlechtersystem anzuprangern, ohne den „Wir Frauen*“-Begriff zu diskreditieren, der uns in die Lage versetzt, weiterhin kollektive Betroffenheitslagen benennen zu können und gesellschaftspolitische Kämpfe anzugehen.
Nun startet der Vortrag zu „Antifeminismus und rechtspopulistische Dynamiken als Demokratiegefährdung?!“ von Judith Rahner, der Leiterin der Fachstelle „Gender und Rechtsextremismus“ in der Amadeu Antonio Stiftung, deren Arbeit ich fantastisch finde. Erhellend führt sie aus, dass Rechtspopulismus als schillernder Sammelbegriff fungiert, von geschürter Empörung lebt und dabei vornehmlich ausländerfeindliche respektive rassistische, islamophobe und EU-ablehnende Ideologiefragmente als Antriebskraft nutzt. Anti-Genderismus und Anti-Feminismus erweisen sich zudem als Fixpunkt für rechte Bewegungen und (neu-)rechtes Gedankengut. Strategisch werden Rassismus und Sexismus gegeneinander ausgespielt, Begriffe ins Gegenteil verkehrt, beispielsweise wird die Freiheit verschiedene Lebensentwürfe zu gestalten und zu leben als Zwang zur „Umerziehung“ verkannt, oder die Geschlechtergerechtigkeit als Erniedrigung des Mannes interpretiert sowie falsche Vorwürfe erhoben, darunter z.B. die Brandmarkung der Gender Studies als unwissenschaftlich. Rahner arbeitet heraus, dass rechter Antifeminismus und antifeministische Gedanken eine Scharnierfunktion einnehmen und so als Kit dienen für Rechtspopulismus, Rechtsextremismus und bürgerliche Mitte. Abschließend betont sie die neue Massivität und Brutalität mit der emanzipatorische und feministische Errungenschaften und Selbstverständlichkeiten in Frage gestellt werden. Beleidigungen, Beschimpfungen, Shitstorms und Diskreditierungen haben krass zugenommen. Ich finde es schlichtweg bewundernswert von ihr und vielen Anderen, sich diesen dehumanisierenden, menschenverachtenden Verwünschungen, Attacken und Angriffen zu verwehren, sich dem stets aufs Neue zu widersetzen und die eigene Arbeit gekonnt und kompetent durchzuführen.
Beim Empfang im Foyer nehme ich mir ein paar leckere Käseschnitten und Weißwein und unterhalte mich angeregt mit verschiedenen Cottbuserinnen*. Dann spreche ich mit der neuen Zentralen Gleichstellungsbeauftragten der BTU Cottbus-Senftenberg, Birgit Hendrischke, die, wie das Leben so spielt, auch in der letzten Reihe landete, und zwar direkt neben mir auf dem zwischendurch freigewordenen Platz und begleite am Ende Judith Rahner zum Bahnhof.
Ich bin erfüllt von Kraft und Solidarität!
Als ich abends inspiriert im Bett liege, jedoch wieder einmal an die Tatsache denken muss, dass sich nur circa zwei Prozent des Weltvermögens in Händen von Frauen* befindet, frage ich mich wie so oft, wie mensch/man denn eigentlich nicht feministisch und/oder frauen*bewegt durchs Leben schreiten kann? Freilich – und das höre ich oft – wäre das eine sehr globale, allgemeine (aber: wahre!) Zahl, aber in einer Welt, in der (ich bin geneigt, groß zu schreiben: leider!) vornehmlich Geld regiert, ist das nun einmal eine Tatsache, aus der viele aktuelle gesellschaftspolitische Erklärungszusammenhänge abgeleitet werden können. Insbesondere dann, wenn wir das Wissen darum abrufen, dass Strukturen auch mit Kulturen zusammenhängen, d.h. dass strukturelle Diskriminierungen sich auch in den Weisen, wie wir zusammenleben und arbeiten, reproduzieren. Vielleicht kann ein Beispiel dies besser illustrieren: zu sagen, Frauen* könnten andere Berufe lernen, um besser entlohnt und finanziell unabhängiger zu werden und sie könnten weniger Fürsorgearbeit übernehmen, löst gar keine Probleme, da der Sektor der personenbezogenen Dienstleistungen – darunter insbesondere Pflege – weiter massiv wachsen wird und auch Kochen, Putzen, Waschen usw. sich nicht von alleine erledigen. Und wir diese sinnvollen Aufgaben und Tätigkeiten auch in Zukunft brauchen werden. An dieser Stelle kommt der sogenannte Gender Care Gap von unglaublichen 52% ins Spiel und zerstört eindrucksvoll die Illusion der (vermeintlich) erreichten Gleichstellung und Gleichberechtigung. Hier geht es nicht um Schuld, sondern um ökonomische Wertketten und um Verunsichtbarung von reproduktiven und für/sorgenden Arbeiten, also Arbeiten, die uns alle* im Leben und am Leben halten. …. und weiter? Feministisch zu fordern wäre daher meiner Meinung nach weniger die Gleichheit, sondern die Gleichwertigkeit von Arbeit. Zu fordern wäre folglich, Arbeit so zu organisieren, dass beispielsweise Banker*innen genauso wenig verdienen wie Erzieher*innen, dass Altenpfleger*innen genauso viel verdienen wie Informationstechniker*innen und Fürsorgearbeit allgemein aufgewertet wird sowie als das anerkannt und gesehen wird, was sie ist: von unabdingbarer Unersetzlichkeit und Unermesslichkeit!
Bei dem Gedanken, dass Feminismus und Frauen*bewegungen ohne eine fundierte Kapitalismuskritik, ohne ein Bewusstsein über den tiefschürfenden Androzentrismus in unseren gesellschaftlichen Austauschsystemen – ökonomischen, wie kulturellen – und ohne antirassistische, postkoloniale sowie machtkritische, sexpositive Perspektiven nicht auskommt, eben ein intersektionales Verständnis der Herrschafts- und Dominanzverhältnisse braucht, schlafe ich ein.
P.S. Das mag komplizierter klingen, als es ist, beruht aber auf einem recht simplen Gedanken: Nämlich zuzulassen, dass wir uns alle in Abhängigkeitsverhältnissen befinden und bewegen. Oder anderes ausgedrückt: wir können nur in der grundlegenden Verwiesenheit auf Andere existieren. Diese produktive Verwiesenheit wird immer noch oft geleugnet. Sie anzuerkennen und ihr mit Verantwortung zu begegnen, könnte der erste Schritt sein, eine gerechtere Welt im Kleinen und Großen zu gestalten. Und zwar in Theorie und Praxis. Geht es nicht einfach darum, empathisch(er), umsichtig(er) und durchlässig(er) zu werden, sich weniger abzudichten, aktiv(er) zuzuhören, Freiheiten zu teilen und emanzipatorische Errungenschaften zu schützen? Die Andersheit der Anderen wertzuschätzen, an- und zu erkennen? Um es mit Carolin Emcke zu beschließen: „wir Menschen haben die Begabung zum Anfangen, wir können immer wieder anfangen, neu anfangen“. Und wir sind nicht allein. Es geht: gemeinsam statt einsam! Still lovin’ Feminism! Bis zur nächsten Frauen*woche in Cottbus!
Text: Sandra Hettmann, Autorin und Aktivistin